Es war zu befürchten: Das Coronavirus wütet in den Schulen. Seit Ende der Sommerferien mussten in der Schweiz Tausende Schülerinnen und Schüler wegen positiver Covid-Tests in Quarantäne.
An einigen Orten ist die Lage besonders schlimm. Am Dienstag wurde bekannt, dass in Lenzburg AG die ganze Primarschule geschlossen werden muss. 29 Klassen – gut 600 Schüler – müssen sich zu Hause isolieren. In Zürich wurden in den vergangenen zwei Wochen über 1000 Schülerinnen und Schüler in Quarantäne geschickt. Im Thurgau waren in der ersten Woche nach den Ferien 400 Kinder betroffen, im Kanton Schwyz 450.
Sehr hohe Dunkelziffer
Tanja Stadler (40), die neue Präsidentin der wissenschaftlichen Corona-Taskforce des Bundes, ist ob der explodierenden Corona-Fälle an Schulen besorgt. «Wir beobachten bei den Kindern und Jugendlichen eine ausgeprägte Ansteckungswelle», sagt sie an der Experten-Medienkonferenz zur Covid-Situation am Dienstag. Während die Fallzahlen bei den Erwachsenen derzeit stagnieren oder sinken, nehmen die Covid-Fälle bei den Kindern von 0 bis 9 und von 10 bis 19 Jahren seit vergangenem Monat stark zu. Die Taskforce hält fest, dass zwar auch die Zahl der durchgeführten Tests stark gestiegen sei. Eine Positivitätsrate von rund 15 Prozent in diesen Altersklassen deute jedoch darauf hin, dass die Dunkelziffer sehr hoch sei.
«Diese starke Zirkulation sollten wir nicht verharmlosen», sagt Stadler. Denn obwohl das Virus für Kinder nicht extrem gefährlich sei, könnten auch sie schwer erkranken und von Long Covid betroffen sein. Die Kinder seien zudem nicht nur einem gesundheitlichen Risiko ausgesetzt. Die Massnahmen, die bei grossen Ausbrüchen getroffen werden, stellten für sie auch eine psychische und soziale Belastung dar.
Jeder Kanton kocht sein eigenes Süppchen
Stadler spricht sich unter anderem für das Tragen von Masken, den Einsatz von Messgeräten für die Luftqualität und Corona-Massentests an Schulen aus. Massnahmen, für die sich auch die Lehrkräfte seit langem starkmachen. «Abgesehen von einigen Kantonen und Gemeinden, die vorbildlich handeln, braucht es deutlich mehr Schutzmassnahmen an den Schulen», sagte Franziska Peterhans, Zentralsekretärin des Dachverbands der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), vergangene Woche zu Blick. Es sei «ein Armutszeugnis», dass es die Kantone nicht hinbekommen, sich besser zu koordinieren.
Während Aargau, Luzern, Uri und Schaffhausen in den vergangenen Tagen eine Wiedereinführung oder Verlängerung der Maskenpflicht an Schulen beschlossen haben, sehen die Regierungen in vielen anderen Kantonen noch immer keinen Grund dazu, Massnahmen zu ergreifen. Der Kanton Bern hat gar eben erst die wöchentlichen Massentests eingestellt. Es soll nur noch bei Ausbrüchen getestet werden.
Lehrer haben resigniert
Inzwischen ist beim Lehrerverband Resignation spürbar. Seit nunmehr anderthalb Jahren fordere man mehr Koordination, sagt LCH-Präsidentin Dagmar Rösler (49). «Wir sollten uns nun nicht länger damit aufhalten.» Die Situation sei für die Lehrpersonen «unglaublich zermürbend», aber auch für die Eltern sehr schwierig. «Statt aber einen Schuldigen zu suchen, müssen wir nun versuchen, das gemeinsam zu meistern.»
Rösler legt ausserdem Wert darauf zu betonen, dass die Explosion der Fallzahlen an den Schulen nicht bedeutet, dass das Ansteckungsrisiko dort besonders hoch ist. «Die Kinder stecken sich ja nicht ausschliesslich an der Schule an, sondern man testet lediglich dort und entdeckt so die positiven Fälle», sagt sie.
Kantone schieben Verantwortung von sich
Dennoch besteht aus Sicht vieler besorgter Eltern, Expertinnen und Politiker dringender Handlungsbedarf. Gesundheitsminister Alain Berset (49) hat wiederholt klargemacht, dass auch aus seiner Sicht die Kantone mehr zum Schutz der Kinder tun müssten.
Diese jedoch zaudern und zögern – und schieben die Verantwortung von sich. Silvia Steiner (63), Bildungsdirektorin des Kantons Zürich und Präsidentin der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), hatte gemäss ihrer Kommunikationsabteilung am Dienstag keine Zeit, in einem Interview Fragen zum Thema zu beantworten. Schon vergangene Woche wurde eine Interviewanfrage abgelehnt.
Steiner hält auf die Fragen von Blick lediglich fest, dass es sich bei den Ausbrüchen an Schulen «mehrheitlich um lokale Ansteckungen» handle. «Daher sind die Kantone überzeugt, dass es nach wie vor sinnvoll ist, an die lokale Situation angepasste Massnahmen zu ergreifen.» Die Schulen verfügten über ein Paket an Schutzmassnahmen, die ergriffen werden könnten – «und wissen diese zielgerichtet einzusetzen».
Alles in bester Ordnung also, finden die Kantone. Viele Eltern sehen das anders.