Fünf Jugendliche sitzen Hüfte an Hüfte am Seeufer. Drei andere laufen auf sie zu. «Salut, Salut!», ertönt es. Sie lachen, umarmen und küssen sich. Es ist ein lauer Sommerabend. Die Feierstimmung hat sich vom Lausanner Flon-Quartier rund um den legendären Nachtclub Mad an die Seepromenade von Ouchy verlagert. Denn wer sich in einer Disko amüsieren will, steht vor geschlossenen Türen: Der Kanton Waadt hat den Feierlustigen die Party untersagt.
Das ganze Land schaut seit dieser Woche gebannt auf den grössten Westschweizer Kanton. Die Lage droht zu eskalieren: Jeder dritte positive Schweizer Corona-Test stammt von hier. Die Behörden versuchen die Kurve verzweifelt abzuflachen. Seit Donnerstag bleiben die Clubs zu, Events mit über hundert Personen sind verboten. In öffentlich zugänglichen Räumen – Restaurants, Kinos, Bibliotheken – gilt Maskenpflicht. Es sind die schärfsten Regeln der Schweiz. Die Regierung greift durch. Doch reicht das? Die Zahl der Neuinfektionen ist so hoch, dass das kantonale Contact Tracing überfordert ist. Die Regierung sah sich gezwungen, die Quarantänemassnahmen zu lockern – ausgerechnet im Kanton mit den höchsten Fallzahlen. Neu muss sich nur noch isolieren, wer mit einer infizierten Person unter einem Dach lebt oder in einer Beziehung steht.
Politiker und Wissenschaftler uneinig
Hohe Infektionszahlen und gelockerte Quarantäne – das passe nicht zusammen, sagt Daniel Speiser (65), Immunologe an der Universität Lausanne und Mitglied der wissenschaftlichen Task Force des Bundes: «Gerade jetzt, wo der Kanton so schlecht dasteht, ist das leichtsinnig.»
Man wolle sich nunmehr auf jene Personen konzentrieren, bei denen die Infektionsgefahr am grössten ist, rechtfertigte das Amt der Waadtländer Gesundheitsministerin Rebecca Ruiz (38, SP) den Entscheid. «Wir müssen jetzt so effizient wie möglich vorgehen», sagte Ruiz zum Westschweizer Fernsehen.
Am Seeufer von Ouchy lässt man sich von der schwierigen Lage nicht die Laune verderben. Im Stadtzentrum von Lausanne zeigt sich derweil eine Kluft zwischen strikter Einhaltung der Massnahmen und lockerem Umgang: Eine Bar wirbt mit dem Slogan «Auf unserer Terrasse muss keine Maske getragen werden». Eine Gasse weiter wirft ein Wirt einen Maskenverweigerer aus dem Lokal: «Excusez-moi, aber seit heute Abend gibt es keine Ausnahmen mehr.»
Im Kino nebenan dürfen die Besucher maskenbedingt kein Popcorn mehr naschen. Es ziehe ohnehin nur wenige vor die Leinwand, sagt Venanzio Di Bacco (43), CEO von Pathé Schweiz: «Corona hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht.» Das Maskenobligatorium sieht Di Bacco als Test: «Wir wünschen uns einheitliche Regelungen. Es ist möglich, dass wir in der gesamten Schweiz eine Maskenpflicht in den Sälen einführen.»
Im öffentlichen Verkehr gehört die Maske in der Waadt schon seit über zwei Monaten dazu – länger als in den meisten anderen Kantonen. In der Metro patrouillieren Securitas. Viel auszusetzen gibt es nicht: Alle Passagiere haben sich den Gesichtsschutz korrekt über die Nase gezogen. Hier ist man sich bewusst: Ja, das Virus ist noch immer da.
Arbeiten statt Quarantäne
Wie ernst die Lage in der Tat ist, zeigt ein Augenschein im Lausanner Universitätsspital, 15 Minuten Metrofahrt vom Bahnhof entfernt. Hier müssen einzelne Angestellte arbeiten, obwohl sie eigentlich in Quarantäne gehörten, räumt Direktor Philippe Eckert (63) ein. Wir passieren eine schwere, milchgläserne Tür. Dahinter verbirgt sich der Risikobereich des Spitals: die Corona-Abteilung. Die Pfleger passieren eine Schleuse, kleiden sich mit sterilen Handschuhen und Überziehern ein, manche tragen Schutzbrillen. Man wähnt sich in einem Hochsicherheitsbereich.
Hier sind aktuell 23 Menschen wegen Covid19 hospitalisiert. Auf der Intensivstation liegen zwei weitere Patienten. Das Unispital hatte im März den ersten Schweizer Todesfall zu beklagen. In keinem Kanton starben seither mehr Menschen.
Warum die Waadt erneut so stark betroffen ist, weiss niemand. Lausannes florierendes Nachtleben habe sicherlich dazu beigetragen, mutmasst Immunologe Daniel Speiser: «Als in Genf die Klubs schlossen, kamen die Leute in die Waadt, um zu feiern.» Auch kulturell geprägte Faktoren spielten eine Rolle: «Die Romands haben allgemein mehr Mühe mit dem Einhalten der Distanz – man umarmt und küsst sich gerne.» Philippe Eggimann (53), Infektiologe und Präsident der Waadtländer Ärztegesellschaft, verweist auf die Geografie: «Der Anstieg der Fallzahlen kommt zwei bis drei Wochen nach Bordeaux, Marseille oder Spanien.» Trete dort ein Viren-Cluster auf, schwappe der Erreger rasch in die Genferseeregion herüber.
Steht ein Lockdown bevor?
Eggimann fordert nun eine regionale Taskforce und einheitliche Massnahmen in der ganzen Region: «Ich begrüsse die verschärften Masken- und Partyregeln in der Waadt. Aber Hunderttausende Pendler bewegen sich jeden Tag quer durch die Romandie. Das Virus mag diesen Aspekt des Föderalismus ganz besonders.» Vorstellbar wäre etwa das Testen aller Kontaktpersonen. In Anbetracht dessen, dass das Waadtländer Contact Tracing bereits überlastet ist, eine mutige Vorstellung.
Ist ein regionaler Lockdown nötig, wenn die Kurve nicht abflacht? Philippe Eggimann: «Nur in einem Kanton macht das keinen Sinn. Aber ich befürchte, dass diese Forderung von anderen Kantonen oder sogar von Bundesseite laut werden könnte, wenn sich die Lage verschlechtert.»
Dass einige Hundert Jugendliche einen Tag vor der Clubschliessung noch extra eine riesige Party veranstalten, sorgt am Freitag in der Innenstadt noch immer für Gesprächsstoff. Eine ältere Dame meint zu ihrer Freundin: «Idiotique ist sowas.» Sie selbst wolle die neuen Regeln streng befolgen. Das Virus in den Griff kriegen. Es ist eine Kampfansage – mit offenem Ausgang.