WEF verschoben, Spengler Cup abgesagt
Philipp Wilhelm sucht für Davos ein Danach

Davos hatte jahrelang Erfolg dank WEF, Spengler Cup und Gästen aus aller Welt. Dann kam die Pandemie. Philipp Wilhelm, der erste sozialdemokratische Landammann, sucht für Davos ein Danach.
Publiziert: 16.01.2022 um 19:00 Uhr
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Philipp Wilhelm (33) ist der allererste SP-Politiker an der Spitze von Davos.
Foto: Thomas Meier
Karin A. Wenger (Text), Thomas Meier (Fotos)

An Heiligabend piepte ein SMS eines Bündner Regierungsrat: Schau bitte in die E-Mails. Philipp Wilhelm (33) ass gerade Filet im Teig bei den Eltern seiner Freundin. Er habe das Mail gelesen und gedacht: «Gopf, chann das öpe ufhöre?» Früh am nächsten Morgen sass er in einer Krisensitzung, wieder einmal – sein erstes Amtsjahr als Gemeindepräsident von Davos GR endete, wie es begann.

Der Spengler Cup musste an Weihnachten abgesagt werden; fünf Tage zuvor hatte das WEF verkündet, das Treffen wohl erst im Sommer durchzuführen; Anfang Dezember fiel der zweitgrösste Kongress aus, eine internationale Weiterbildungswoche für Chirurgen. Auch der zweite Corona-Winter trifft die Alpenstadt hart.

Vor dem Kongresszentrum wird auf- statt abgebaut. Das WEF gab bekannt, wohl erst im Sommer stattzufinden.
Foto: Thomas Meier

Davos, das ist ein Ort mit 11'000 Einwohnern und doppelt so vielen Betten. Das Kongresszentrum, das üblich an 270 Tagen im Jahr besetzt ist mit sechzig bis hundert Veranstaltungen, steht nun die meiste Zeit leer. Noch nie seit 1964 haben hier so wenig Gäste übernachtet wie im vergangenen Tourismusjahr 20/21. Wie soll es bloss weitergehen in Davos?

Für die Zukunft zuständig ist der allererste sozialdemokratische Landammann, so heisst der Gemeindepräsident in Davos. Philipp Wilhelm ist der zweitjüngste Amtsinhaber, Bilder aller seiner Vorgänger hängen im Rathaus. Ein Porträtfoto von ihm fehlt, obschon er an diesem Dienstag Mitte Januar seit einem Jahr und elf Tagen im Amt ist. Er habe noch keine Zeit gefunden, ein Bild zu liefern, sagt er. «Ich hatte halt andere Prioritäten.»

Sein erstes Jahr war mindestens so ungewöhnlich wie die Wahl selbst. Traditionell steht ein FDP-Politiker an der Spitze von Davos. Wilhelm, dem damaligen Präsidenten der SP Graubünden und langjährigen WEF-Kritiker, räumten seine Konkurrenten kaum Chancen ein. Im zweiten Wahlgang war der Gegenkandidat der FDP so siegessicher, dass er vorsorglich seinen Job als CEO der Lenzerheide Bergbahnen kündigte. Doch dann die Überraschung: Wilhelm wurde gewählt, ziemlich sicher auch mit Stimmen aus dem bürgerlichen Lager.

Davos lebt von der Vielfalt und von Gegensätzen. Der Ort ist in der Zwischensaison ein Dorf, während einer Woche im Jahr die Welthauptstadt. Davos steht für eine heile Bergwelt, obschon es kein hübsches Chaletdorf ist. In diesem Ort ist viel Ungewöhnliches möglich.

Der zweitjüngste Landamman der Geschichte von Davos muss den Ort in die Zukunft führen.
Foto: Thomas Meier

Er interpretiere seine Wahl nicht nur als Entscheid zwischen linker oder rechter Politik, sagt Wilhelm, sondern als Votum für ein modernes Davos der Zukunft. Er wolle den Ort «vorwärtsbringen», doch dringlicher war erst einmal, den vielen lokalen KMU und Selbständigen in der Pandemie zu helfen.

Vergangenen Januar liess der Landammann eine Hotline bei einer Treuhandfirma einrichten, die Davoser Betriebe gratis berät, welche Unterstützung ihnen von Kanton und Bund zusteht. Zudem zahlte er 1,6 Millionen Franken aus der Gemeindekasse, um einen Teil der Tourismusabgabe der Unternehmen zu übernehmen, um den Hockey Club Davos zu unterstützen und um Museen oder Restaurants Mietrabatte zu gewähren. Gerade sorge er sich, wer für die Ausfälle aufkommt, wenn Betriebe schliessen müssen, weil zu viel Personal in Quarantäne und Isolation festsitzt.

Auf seinem Schreibtisch stehen drei leere Kaffeetassen, mehr als fünf bis sechs Stunden schläft er kaum. Wilhelm wirkt ruhig, gut gelaunt und ziemlich pragmatisch. «Immerhin», sagt er, «schaffen abgesagte Events in meinem Kalender Platz, um an anderen Themen zu arbeiten.»

Von seinen Vorhaben muss er jeweils die bürgerliche Gemeinderegierung und das ebenfalls bürgerliche Parlament überzeugen. «Das ist fast wie früher am Familientisch», sagt er und kichert kurz, wie er das manchmal am Ende von Sätzen tut. Dann fügt er an: «Nein, statt Parteipolitik suchen wir gemeinsam nach der besten Lösung für Davos, wir harmonieren als Team sehr gut.»

Der Landamman hat ein Bild seines Heimatdorfs Monstein im Büro aufgehängt.
Foto: Thomas Meier

Aufgewachsen ist Wilhelm in Monstein bei Davos. Die Familie wählte FDP, dem Vater gehört eine Schreinerei. Er spielte Eishockey und diskutierte im Gymnasium mit Freunden darüber, wieso in der Welt Profite über dem Allgemeinwohl stünden. «Das beschäftigte mich sehr schnell sehr fest, auch wegen des WEF», sagt er. Bald habe er realisiert: «Die Wichtigen kommen in Davos zusammen und machen zu wenig.» Also demonstrierte er während des WEF.

2007 zog er nach Zürich und begann Architektur an der ETH zu studieren. Viele Mitstudenten kannten von Davos vor allem das WEF und Skifahren. Der Ort vereint auf kleinem Raum das, womit sich Schweizer gerne rühmen: eine wichtige Bühne der Diplomatie und Wintersport in der Idylle. Ein US-Präsident im internationalen Genf hat nicht die gleiche Wirkung wie im verschneiten Bergort.

Neben dem Studium arbeitete er zwischendurch in der Schreinerei der Familie. Die Ungleichheit auf der Erde machte ihn weiter wütend. Einmal habe ihm seine damalige Freundin gesagt, er jammere ständig, ohne sich zu engagieren. Kurz darauf trat Wilhelm der Juso bei, gründete den Verein IG offenes Davos als Antwort auf den Aufschrei, den ein Asylzentrum in Davos verursachte.

Es folgten Ämter im Gemeinde- und Kantonsparlament. Zürich mochte er, doch auch wegen der Politik kehrte der Architekt in die Heimat zurück. Als der damalige Landamann verkündete, nicht mehr anzutreten, sass er seit fast zehn Jahren in der Legislative der Gemeinde und habe sich gefragt: Kann ich dem Ort helfen?

Führungserfahrung bringt er keine mit, dafür viele Visionen. Er will Davos grüner, jünger und digitaler machen. Um seine Zukunftspläne besser zu verstehen, muss man in die Vergangenheit des einstigen Bauerndorfs reisen.

Vom Bauerndorf zum Kurort

Keiner kennt die Geschichte von Davos so gut wie Klaus Bergamin (84). Der Lokalhistoriker ist so etwas wie das Gedächtnis der Gemeinde. Um Gästen zu erklären, wie Davos zum Touristenort von heute wurde, fährt der pensionierte Lehrer seit zehn Jahren jeden Dienstag und Donnerstag rauf auf die Schatzalp. Denn dort oben, mit Ausblick auf verschneite Berge und Täler, thront als Zeitzeuge das ehemalige Luxussanatorium, in dem illustre Gäste aus der ganzen Welt stundenlang auf Liegen ruhten.

Niemand kennt die Geschichte von Davos so gut wie er: Der Lokalhistoriker Klaus Bergamin (84).
Foto: Thomas Meier

Damals strömten sie wegen der frischen Luft nach Davos, nun tragen die wenigen Touristen im heutigen Hotel Schatzalp alle eine Maske. Nur vier nehmen an diesem Tag an Klaus Bergamins Führung teil, an den besten Tagen vor der Pandemie waren es bis zu vierzig.

In Davos ging es früh um Existenzielles. Bergamin erzählt, wie der Deutsche Alexander Spengler in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Landschaftsarzt nach Davos kam. Damals war der Ort ein Bauerndorf in wirtschaftlicher Misere. Wie in ganz Europa und Russland grassierte auch in der Schweiz eine Seuche, die Tuberkulose, an der jeder Siebte starb. Dem Arzt Spengler fiel rasch auf, dass Erkrankte gesund wurden in der sonnigen und trockenen Bergluft, in der es keine Milben und wenig Pollen gibt.

Bald schon rannten ihm Lungenkranke die Praxis ein. Davos entwickelte sich zum berühmten Kurort. 1870 lebten 1700 Einwohner dort, dreissig Jahre später waren es bereits 11'000.

Ausgerechnet einer Infektionskrankheit verdankt das heutige Davos einen grossen Teil des historischen Erbes. Mit den Kliniken kamen um die Wende zum 20. Jahrhundert erste Forschungsinstitute. Davos wurde zum Treffpunkt der europäischen Wissenschafts- und Kulturszene. Etliche Intellektuelle und Künstler reisen an, unter anderem Ernst Ludwig Kirchner. Der Schriftsteller Thomas Mann, dessen Frau eine Patientin war, hinterliess Davos mit dem Sanatoriumsroman «Zauberberg» ein literarisches Denkmal. Englische Gäste brachten das Eislaufen in Mode, und Spenglers Sohn, auch ein Kurarzt, gründete 1922 das bekannte Eishockeyturnier.

Das ehemalige Luxussanatorium auf der Schatzalp ist heute ein Hotel.
Foto: Thomas Meier

«Eigentlich waren es meistens die Leute von ausserhalb, die Davos zu dem machten, was es heute ist», sagt der Lokalhistoriker Klaus Bergamin. «Doch die Davoser trugen auch zum Erfolg bei: Sie waren sehr offen für das Neue.» Vielleicht gar etwas zu offen. In der Zeit rund um den Zweiten Weltkrieg war der Ort eine Hochburg der deutschen Nationalsozialisten in der Schweiz. International für Schlagzeilen sorgte ein Attentat des jüdischen Studenten David Frankfurter, der Wilhelm Gustloff, den Chef der Auslandsorganisation der NSDAP in der Schweiz, in Davos erschoss.

Das Kuren allerdings brachte weiterhin Gäste nach Davos: 1947 waren es eineinhalb Millionen Logiernächte. Wenn Bergamin davon erzählt, wie die Patienten täglich einen Liter rohe Milch trinken mussten, verzieht er das Gesicht. Er weiss, wovon er spricht. Mit 16 Jahren erkrankte er an Tuberkulose. Bergamin stammt aus Schmitten GR, seine Eltern waren arme Bergbauern. Menschen wie er hätten sich die teure Kur auf der Schatzalp nie leisten können. Klosterfrauen pflegten ihn umsonst in einem Sanatorium, als Gegenleistung spielte er am Sonntag Orgel in der Hauskapelle.

Mitte des 20. Jahrhunderts drohte der Destination Davos die Misere: Forscher fanden spezifische Medikamente gegen Tuberkulose. Damals wählte die Bevölkerung einen 31-Jährigen zum Landammann, der stark dazu beitrug, Davos zum Wintersportort zu machen. Viele Sanatorien wurden zu Hotels. Er setzte auf die Forschung, initiierte zusammen mit dem Kurdirektor ein Kongresshaus, in dem später das WEF zum ersten Mal stattfand. «Davos hat immer geschickt neue Wege gesucht», sagt Bergamin oben auf der Schatzalp.

Wie geht es weiter?

Unten in Davos stapft der aktuelle Landammann Philipp Wilhelm im Schnee am Kongresshaus vorbei, vor dem Handwerker für das WEF aufgestellte Temporärbauten demontieren. «Ein Geschäftsmodell von Davos ist, dass man sich immer überlegte, wie es weitergeht, und sich dann neu ausrichtete», sagt er. Diese Tradition setzt er fort mit vielen Visionen. Er will Davos zu einem alpinen Homeoffice für Städter und Besitzer der vielen Zweitwohnungen machen, die nach der Arbeit in einer halben Stunde auf der Piste sein können. Dafür plant er Co-Working-Spaces. Er will Jobs schaffen, indem er den Forschungsstandort ausbaut, vielleicht ein Institut für künstliche Intelligenz initiiert. Auch im Isolieren von Häusern, um den Klimawandel zu bekämpfen, sieht er potenzielle Arbeitsplätze.

Der Arkadenplatz war lange voller parkierter Autos, nun bietet er Raum für Ausstellungen oder den Weihnachtsmarkt.
Foto: Thomas Meier

Der Landammann will, dass Touristen das ganze Jahr nach Davos kommen. Und dass wieder mehr Menschen das ganze Jahr in Davos leben. Die «Einwohnerinnenzahl», wie er in gegenderter Form sagt, nimmt seit Jahren leicht ab. Damit die neuen Arbeitskräfte bleiben, möchte er Davos attraktiver machen: mehr Begegnungszonen, weniger Verkehrslärm, mehr Kulturangebote. Als Beispiel zeigt er den Arkadenplatz: Wo früher eine «Blechlawine» von Autos parkierte, entstand nun neuer Lebensraum, ein schickes Kulturzentrum mit Kino.

All diese Pläne bedeuten für ihn keinesfalls, das Bestehende aufzugeben. Er setze sich dafür ein, dass das WEF so lange wie möglich in Davos bleibe. Die Bevölkerung habe sich mehrfach dafür ausgesprochen. «Für mich ist klar, dass ich diesen Willen als Landammann überzeugt vertrete.» Er glaubt daran, dass sich Menschen auch nach der Pandemie wieder physisch treffen wollten. Der Kalender des Kongressgebäudes zumindest ist für Sommer 2022 ausgebucht.

Und auch das Tourismuszentrum hat positive Zahlen: Im Dezember waren die Logiernächte in Davos erstmals gleich wie vor der Pandemie. Dies, weil mehr Schweizer Touristen anreisen und ausländische Gäste wieder Ferien in Davos buchen.

Vielleicht wird Philipp Wilhelms zweites Amtsjahr anders enden, ohne Krisensitzung. In Davos ist vieles möglich.

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