Masken, Kontaktbeschränkungen und Zertifikate sind aus dem Alltag verschwunden. Corona scheint vergessen. Doch gerade jetzt, wo die Sommerferien kurz bevorstehen, steigen die Fallzahlen wieder. Grund sind die Omikron-Untervarianten BA.4 und BA.5. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft sie als «besorgniserregende Varianten» ein. Die Genfer Virologin Isabella Eckerle (42) warnte auf Twitter vor der nächsten Corona-Welle in der Schweiz.
Die Infektionen mit der Omikron-Variante BA.5 verdoppeln sich seit Anfang Mai beinahe wöchentlich. Laut der ehemaligen Taskforce-Leiterin und Leiterin der ETH-Plattform CoV-Spektrum, Tanja Stadler (41), würden die Fälle so lange steigen, bis «eine ausreichende Immunität aufgebaut» werde oder bis «Verhaltensänderungen die Übertragung reduzieren». Damit bringt Stadler wieder Masken und das vermehrte Lüften von Innenräumen ins Gespräch.
Kein Hinweis auf schwere Verläufe
Auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) bestätigt den Trend in Richtung neue Welle, sieht aber nach wie vor keinen Grund zur Sorge. «Es gibt keine Hinweise, dass die Varianten BA.4 und BA.5 schwerere Verläufe verursachen als die bisherigen Varianten», teilte das BAG auf Anfrage von Blick mit. «Zudem geht der Bund angesichts der breiten Immunität in der Bevölkerung nicht von einer schweren Belastung des Gesundheitssystems aus.»
Für die Einführung von neuen Massnahmen sind aktuell die Kantone zuständig. Die Schweizerische Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) kann bei einer schweizweit oder überregional angespannten epidemiologischen Lage Massnahmen ausarbeiten und empfehlen. Das sei aktuell aber noch nicht der Fall, teilte die GDK auf Anfrage von Blick mit.
Ausserdem habe die Pandemie gezeigt, dass die vorgängige Definition von Schwellenwerten, ab wann Massnahmen ergriffen werden sollen, kaum zielführend sei.
Schwere Long-Covid Fälle bei Kindern
Während die Infektionszahlen steigen, gibt es in der Schweiz auch vermehrt Fälle von Kindern, die an Long Covid erkranken. Am Zürcher Kinderspital gibt es seit März eine entsprechende Anlaufstelle. Pro Woche werden dort ein bis zwei neue Kinder aufgenommen, wie der «Tages-Anzeiger» berichtete.
Die zuständige Kinderärztin Lara Gamper sagt gegenüber der Zeitung: «Ich bin überzeugt, dass Covid auch bei Kindern postinfektiöse Beschwerden wie Fatigue, Konzentrationsschwierigkeiten, Leistungsintoleranz und chronische Schmerzen verursachen kann, auch wenn die Studienlage nicht eindeutig ist.» Solche Symptome habe es schon früher nach anderen Infektionen gegeben, aber seit der Corona-Pandemie hätten sich die Fälle gehäuft.
Schwierigkeiten bei der Diagnose
Gamper behandelt schwere Fälle von Long Covid. Die Kinder, die zu ihr in die Sprechstunde kommen, können oft nicht mehr normal am Schulunterricht teilnehmen. Sie sind im Alltag stark eingeschränkt. Die Kinder sind durchschnittlich 12 Jahre alt. «Je jünger sie sind, desto schwieriger ist es, die Beschwerden zu diagnostizieren und zum Beispiel kognitive Beeinträchtigungen überhaupt zu bemerken», sagt Gamper.
Die Behandlung sei ebenfalls eine Herausforderung. «Es gibt noch keine evidenzbasierten Therapien», so die Ärztin. Die Kinder würden bei der Genesung unter anderem mit Vitaminzusätzen, Melatonin oder Antihistaminika unterstützt. «Am wichtigsten sind aber geregelte Tagesstrukturen und dass die Kinder und Jugendlichen schnellstmöglich zurück in den Alltag und die Schule finden können und eine Chronifizierung verhindert werden kann», sagt Gamper.
Die Ärztin geht davon aus, dass Long Covid genau wie die Corona-Infektion bei Kindern milder ausfällt als bei Erwachsenen. «Eine vollständige Erholung ist bei den meisten betroffenen Kindern sehr wahrscheinlich», sagt sie. Allerdings gebe es noch viele offene Fragen, die erforscht werden müssten. (gin)