Seit Jahren fallen Schweizer Strafverfolger durch ihre Nähe zu Moskau auf. So sehr, dass der US-Botschafter der Eidgenossenschaft in den letzten Wochen mit Briefen und Telefonaten hochrangiger US-Parlamentarier eingedeckt wurde: Sie fürchten, dass die Schweizer Justiz den Kreml bei der Verfolgung von Oppositionellen unterstützt.
Konkret geht es um Jaroslaw Alekseew (46). Der Banker lancierte 2012 die Nawalny-Kreditkarte: Ein Prozent der Transaktionen sollte an die Anti-Korruptionsstiftung des prominentesten russischen Dissidenten Alexei Nawalny (44) fliessen.
Polen hilft, die Schweiz petzt
Doch daraus wurde nichts. Alekseew musste aus Russland fliehen. 2019 lehnte Polen seine Auslieferung nach Moskau ab: Es handle sich um politische Verfolgung.
Ganz anders reagierte das Bundesamt für Justiz: Es wies Moskau ungefragt auf ein Konto von Alekseew bei einer Schweizer Bank hin, auf dem fast sein gesamtes Vermögen liegt: eine Million Franken. Der Kreml forderte Rechtshilfe von der Schweiz und die Sperrung der Gelder.Bern reagierte prompt: Seit Anfang 2020 ist Alekseews Vermögen eingefroren.
Jetzt warnt der republikanische US-Abgeordnete Michael Waltz (47): «Ich bin beunruhigt zu erfahren, dass Kriminelle das Schweizer Rechtssystem missbrauchen wollen, um Unterstützer von Alexei Nawalny zu attackieren.» Sein Verdacht: Die Schweiz kusche vor dem Kreml. Nicht nur, weil der Kreml halt so mächtig sei, sondern weil es enge Bande zwischen der schweizerischen und der russischen Justiz gebe.
Darauf weist ein anderer Fall hin, der seit Jahren international für Aufsehen sorgt: 2008 deckte der russische Wirtschaftsprüfer Sergei Magnitski einen Steuerbetrug auf, der kremlnahen Funktionären 230 Millionen Dollar in die Kassen spülte. Die Folge: Magnitski wurde verhaftet und 2009 im Gefängnis zu Tode geprügelt. Die geraubten Gelder transferierte man ins Ausland. 20 Millionen landeten auf Konten von Credit Suisse und UBS.
Bundesanwalt Lauber am Baikalsee
Zwar eröffnete die Schweizer Bundesanwaltschaft 2011 ein Geldwäschereiverfahren. Für Schlagzeilen sorgte sie dann vor allem mit Ausflügen des damaligen Bundesanwalts Michael Lauber und des fallführenden Staatsanwalts Patrick Lamon an den Baikalsee. Hinzu kamen mehrere Trips eines Mitarbeiters von Lamon zur Bärenjagd in Sibirien – auf Einladung Moskaus.
«Unglücklicherweise müssen wir von Korruption als Grund für dieses Verhalten ausgehen», sagt Bill Browder (57), Chef von Hermitage Capital Management. Seiner Firma gehören die geraubten 230 Millionen Dollar – es handelte sich um ausstehende Steuerrückzahlungen. «Der hochrangige Mitarbeiter, der auf Bärenjagd ging, bemühte sich besonders intensiv, die Untersuchung zu beenden, sagt Browder. «Er wurde denn auch wegen Bestechung verurteilt.»
Die Russen zeigten aus naheliegenden Gründen kein Interesse an der Aufklärung der Sache – und lehnten mehrere Rechtshilfegesuche der Schweiz ab.
Dem guten Verhältnis tat dies keinen Abbruch. Nach neun Jahren ergebnisloser Untersuchung stellte die Bundesanwaltschaft 2020 das Verfahren ein. Jetzt will sie die 20 Millionen nach Moskau zurückschicken.
Angst vor Moskau
Umso eifriger zeigt sich die Schweizer Justiz nun im Fall des Oppositionellen Alekseew. «Sie will es sich mit Moskau nicht verscherzen», sagt David Zollinger (56). Er arbeitete bis 2007 als Staatsanwalt des Kantons Zürich im Bereich internationale Rechtshilfe. 2011 bis 2016 war er Mitglied der Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft.
Der Grund für die ungewöhnliche Hilfsbereitschaft der Schweiz sei die Nähe, die sich in den letzten 20 Jahren zwischen den Justizbehörden entwickelt habe, so Zollinger.
«Die Beziehungen wurden immer persönlicher. Das diente nicht nur der Vertrauensbildung, sondern hat wohl auf Schweizer Seite auch mit dem Wunsch nach Nähe zu mächtigen Persönlichkeiten zu tun. Ich bezweifle aber, dass diese Entwicklung gesund ist.» Sie führe nämlich zu einer Einseitigkeit der Beziehungen zulasten der Schweiz.
Bundesamt für Justiz kennt die Zahlen nicht
In den letzten zehn Jahren schickte Bern 248 Rechtshilfegesuche nach Moskau. 404 Begehren kamen von dort in die Schweiz. Doch wie viele davon wurden jeweils abgelehnt? Hält sich das die Waage? Das Bundesamt für Justiz teilt mit: «Diese Angaben werden nicht statistisch erhoben.» Rechtshilfeverfahren würden gemäss den gesetzlichen Grundlagen vollzogen. «Dies schliesst die Unabhängigkeit mit ein.» Mit Zahlen belegen will das Amt diese Aussage jedoch nicht.
Das Konto des Oppositionellen Alekseew bleibt weiter gesperrt. Was würde geschehen, wenn die Schweiz das Rechtshilfegesuch aus Moskau unter Hinweis auf politische Verfolgung ablehnt? «Gar nichts», sagt Zollinger. Er kennt den Fall nur aus den Medien, betont aber: «Es braucht einfach etwas Mut, eine solche Entscheidung zu fällen, wenn die Prüfung des Gesuchs einen solchen Schritt anzeigt.» Es könne allenfalls zu diplomatischen Verstimmungen kommen, gerichtlich durchsetzen liesse sich eine Verfolgung nicht.
Frank Meyer (45), Strafrechtsprofessor an der Uni Zürich und Experte für internationale Rechtshilfe, betont: «Ein gewisses Vertrauen zwischen den Behörden ist grundsätzlich wichtig. Es kann allerdings dazu führen, dass man auch mal ein Auge zudrückt.» Doch gerade wenn das Vertrauen da sei, müsse es möglich sein, zu sagen: «Freunde, so machen wir das nicht.» Denn Russland setze das Mittel der Rechtshilfe oft einseitig ein.
«Es darf keine Kumpanei geben.»
Was aber, wenn Jaroslaw Alekseew gar kein Nawalny-Unterstützer ist, wie der «Tages-Anzeiger» vor einigen Tagen unterstellte? Wenn Moskau ihn also überhaupt nicht aus politischen Gründen verfolgt?
SonntagsBlick hat bei Wladimir Aschurkow (49) nachgefragt, dem langjährigen Weggefährten Nawalnys und Direktor seiner Anti-Korruptionsstiftung. Er sagt: «Natürlich ist Jaroslaw Alekseew ein Unterstützer von Alexei Nawalny und hilft mit in unserem Kampf für einen demokratischen Wandel in Russland.»
Bleibt zu hoffen, dass die Schweizer Justiz den Verdacht auf politische Verfolgung intensiv prüft und nötigenfalls den Mut hat, das Rechtshilfegesuch abzulehnen. «Von einer rechtsstaatlichen Behörde darf erwartet werden, dass sie kritisch auf die Beziehungen zu Ländern wie Russland schaut», sagt Rechtsprofessor Meyer.
«Es darf keine Kumpanei geben.»