Besuchen eine EU-Chefin und ein EU-Chef den türkischen Präsidenten – dann bekommt nur der Mann einen Stuhl. So lässt sich der delikate Vorfall bei einem Besuch von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (62) und Ratspräsident Charles Michel (45) bei Recep Tayyip Erdogan (67) am Dienstag in Ankara zusammenfassen.
Wie ein Schulmädchen sass von der Leyen auf dem Sofa – entfernt von den auf Augenhöhe thronenden Herren. Die EU-Chefin, düpiert in Erdogans Palast. Bei einem Treffen, bei dem es auch um Frauenrechte ging. Ein «katastrophales Bild», gab Ratschef Michel nach heftiger Kritik zu.
Parlament will von der Leyen und Michel befragen
Auch in der Schweiz sorgte die Szene für Aufsehen. «In der Welt von Islamisten ist kein Platz für Frauen. Dieser Botschaft war Michel nicht gewachsen», kommentierte die Menschenrechtsaktivistin Saïda Keller-Messahli (63). Das hätte «ganz sicher nicht» passieren dürfen, sagte der Schweizer Ex-Diplomat Paul Widmer (72). Fürs Protokoll: Vorgänger Jean-Claude Juncker (66) durfte stets neben Erdogan sitzen.
Warum liess Ratschef Michel den «Diktator» (O-Ton von Italiens Premierminister Mario Draghi) gewähren? Die türkische Seite behauptet: Weil alles mit Michels Stab abgesprochen war.
Das EU-Parlament fordert Aufklärung, Ende April wollen die Abgeordneten ihre Führungsspitze zum «Sofagate» befragen. Es war bereits das zweite Mal innert kürzester Zeit, dass die EU auf ausländischem Boden vorgeführt wurde.
EU-Chefdiplomat in Moskau vorgeführt
Im Februar blamierte sich der Aussenbeauftragte Josep Borrell (73) bei einem Besuch in Moskau. Statt über den Fall Nawalny zu sprechen, musste der europäische Chefdiplomat auf offener Bühne Fragen zu Polizeigewalt und Angriffen auf die Pressefreiheit in Europa beantworten.
Russlands Aussenminister Sergei Lawrow (71) kanzelte die EU als «unzuverlässig» ab und warf den Regierungschefs «kulturelle Arroganz» vor. Und noch während Borrell und Lawrow zusammensassen, wurde bekannt, dass Russland drei EU-Diplomaten wegen angeblicher Beteiligung an einer Pro-Nawalny-Demonstration ausweisen lässt.
Der Besuch in Ankara offenbart die Schwächen der europäischen Aussenpolitik einmal mehr. Die Währungs- und Wertegemeinschaft beherrscht das diplomatische Machtspiel nicht und hat die Verhältnisse fast drei Jahrzehnte nach ihrer Gründung selbst intern nicht geklärt.
Was passiert beim nächsten Treffen mit China?
«Wen soll ich anrufen, wenn ich Europa anrufen will?», soll Henry Kissinger, US-Aussenminister 1973–1977, einmal gefragt haben: Auch der Lissabon-Vertrag (2009), der die heute von Michel und Borrell besetzten Ämter schuf, hat diese praktische wie existenzielle Frage offensichtlich nicht geklärt.
Selbst die Nominierung der EU für den Friedensnobelpreis artete zum bürokratischen Kleinkrieg aus. Brüssel habe damals gestritten, «wer zur Entgegennahme des Preises reisen und wer das Wort ergreifen würde und wer unterschreiben würde und wessen Unterschrift oben und wessen unten stehen würde...», sagt der EU-Abgeordnete und belgische Ex-Premier Guy Verhofstadt (67).
Mit den erstarkenden autokratischen Regimen weltweit steht die EU vor einer massiven Herausforderung. In Brüssel zittert man offenbar schon vor dem nächsten Spitzentreffen mit Peking.