«Unsere Arbeit ist wirklich krass»
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«Heartwings»-Gründer Widmer:«Unsere Arbeit ist wirklich krass»

Unterwegs mit einem Streetworker im Rotlichtmilieu
Herr Widmer hilft Frauen aus der Sexarbeit

Viele Frauen wollen aus der Prostitution aussteigen, können aber nicht. Auch, weil es kaum Hilfen gibt. Die NGO Heartwings hat einen Ansatz entwickelt, mit dem es besser gelingt. Wir waren mit ihrem Gründer im Milieu unterwegs und sprachen mit einer Aussteigerin.
Publiziert: 28.01.2023 um 10:36 Uhr
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Aktualisiert: 23.02.2024 um 21:56 Uhr
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Peter Widmers Suche beginnt dort, wo sich viele Frauen verlieren. Und Hoffnungen sterben. An der Zürcher Langstrasse. Im Rotlichtmilieu. Vor dem Restaurant Sonne, wo nachts Männer zu Bier und Schnipo Prostituierten im Rhythmus lüpfiger Livemusik den Hintern tätscheln. Jetzt, am Tag, flackert am Boden eine Flamme: eine Grabkerze. Unscheinbar, doch Widmers Blick wandert sofort nach unten, sieht das nicht zum ersten Mal, sagt: «Vielleicht ein Selbstmord einer Prostituierten.» Und zieht weiter. Zieht seine Kreise im «Kreis Cheib». Das ist sein Job.

Peter Widmer (54), wuchtiger Silberring mit Löwenkopf, knopfgrosser Strass-Ohrstecker, Satinhemd im Versace-Stil, sieht so aus, wie jene Männer, die die Frauen ins Sexgewerbe locken. Doch tut er das Gegenteil. Widmer hilft ihnen beim Ausstieg. Als Streetworker. Er und seine Frau haben vor 15 Jahren die gemeinnützige NGO Heartwings gegründet, mit Sitz an der Langstrasse. Dank ihr finden jedes Jahr rund zehn Frauen den Weg aus der Prostitution. Eine anstrengende Arbeit. Langwierig. Doch, sagt Widmer, das sei ihm und seinen sechs Angestellten wichtig: «Wir geben keine Frau auf.»

Peter Widmer, Gründer von Heartwings.
Foto: Thomas Meier

Nun, auf der Gasse, will er jene finden, die Tage zuvor vor ihm stand, mit tränennassen Wangen, schlotternd, fiebrig. Eine Nigerianerin. Er biegt in eine Passage, rechts ein Sexkino, links verschwinden eine Frau in knallengen Jeans und ein Muskelprotz hinter einer Tür. Um die Ecke nicken ihm zwei Transfrauen mit übereinandergeschlagenen Beinen und Stiefeln fast bis zur Hüfte zu, sie schlürfen Tee, warten auf Freier.

Aussteigen heisst: Immer wieder scheitern

Vor einem Tearoom in einer Seitengasse macht er halt. Die Frau hinter der Theke ist Rumänin, Anfang zwanzig, seit kurzem in der Schweiz. Widmer guckt sich die grossen Guetzli in der Vitrine an, kauft eine Handvoll Amaretti. Legt sie in die Tasche zu den Hygieneartikeln, die er der nigerianischen Frau geben will. Das helfe, auf der Gasse Vertrauen zu gewinnen, sagt er. Und wendet sich auf Englisch an die Rumänin: «Pass auf dich auf.» Seine Sorge: Der Besitzer könnte ihr plötzlich den Vertrag kündigen und als Ersatz einen Job im Rotlichtmilieu anbieten. Er sagt: «Alles schon erlebt.»

Und dann geht er, lässt es bleiben. Widmer sagt: «Wir drängen niemanden zu nichts.» Eine Frau müsse von sich aus wollen. Das sei ein Anfang. Doch keine Garantie. «Viele scheitern immer und immer wieder.» Weil sie traumatisiert seien, dringend Hilfe bräuchten.

Prostituierte an der Langstrasse in Zürich.
Foto: Thomas Meier

Wir haben Peter Widmer zwei Tage lang begleitet. Wollten wissen, was es braucht, damit eine Frau die Prostitution hinter sich lassen kann – sofern sie möchte. So viel vorab: sehr viel. Aussteigen ist schwierig. Auch weil das, was Widmer und sein Team tun, Neuland ist in der Schweiz.

Die Organisation Heartwings vermittelt bei Schulden mit Ämtern und Behörden, organisiert Unterkünfte, verteilt Secondhand-Kleider, gibt Deutschunterricht, und – darin ist sie eine Pionierin: Sie betreibt ein Arbeitsintegrationsprogramm, ein Putzunternehmen für ehemalige Prostituierte. Sechs Frauen machen derzeit bei Privatleuten zu marktüblichen Löhnen sauber. Heartwings lernt sie an, begleitet sie. Das Ziel: Sie sollen wieder Fuss fassen, auch in ihren Heimatländern. Letztes Jahr fanden laut Heartwings fünf Frauen anschliessend einen Job.

Für Ausstiegshilfe gibt es kein Lehrbuch. Heartwings hat selber eines entwickelt. Musste. Etwas mehr als eine Handvoll NGOs unterstützen Prostituierte beim Ausstieg. Sie sind meist klein, christlich geprägt, fast alle von Spenden abhängig. Der Staat hält sich raus, lässt sie allein. Warum – darüber gibt das Verhältnis der Schweiz zur Sexarbeit Aufschluss. Konkreter: unsere liberale Gesetzgebung.

Prostitution ist legal, ebenso Zuhälterei – sofern der Zuhälter auf eine ausstiegswillige Frau keinen Druck ausübt. Sexarbeit gilt als Arbeit wie jede andere mit Arbeitsbewilligungspflicht, AHV, Steuern. Ein Ausstieg ist nicht nötig – so die Haltung. Anders im Ausland, dort ist Prostitution meist viel strenger reguliert. In Schweden zum Beispiel gilt das «Nordische Modell»: Freier und Zuhälter werden bestraft, Prostituierte nicht. Der Gedanke dahinter: Sexarbeit ist Gewalt an Frauen. Deshalb finanziert und fördert der Staat ein Netz von Ausstiegshilfen. Das Ziel: die Frauen auffangen.

Carla wollte eigentlich Schauspielerin werden

Carla (50), eine Südamerikanerin, war so lange im freien Fall, wie sie in der Schweiz Geld mit Sex verdiente: mehr als zwei Jahrzehnte. Heute ist sie eine Ehemalige. Eine Aussteigerin. Dank Heartwings. Wir treffen sie vor dem Langstrassen-Haus, in dem sie früher ein Puffzimmer angemietet hatte – für 800 Franken pro Woche. Sie sagt: «Die meisten Frauen wollen mit dem Anschaffen aufhören.» Doch: «Sie haben die Kraft nicht.»

Schaffte nach über zwei Jahrzehnten den Ausstieg: Carla.
Foto: Thomas Meier

Diese hatte auch Carla lange nicht. Wegen ihres Schweizer Ex-Freunds aus dem Milieu, der ihr alles versprach – und alles nahm, ihr Geld, ihre Würde und fast ihr Leben. Seinetwegen versteckt sie nun ihr Haar unter einem Kopftuch, zieht das Stück Stoff eilig ins Gesicht, als eine Bekannte von früher im Vorbeigehen «Hoi» sagt. Carla hat Angst, doch sie macht weiter. Will nicht mehr schweigen. Will reden, «reden macht mich frei», sagt sie. Und sie will eine Stimme für all die Frauen sein, die sonst keine haben. Und diese sagt: «Keine Frau ist dazu geboren, Prostituierte zu sein.»

Carla hatte einst andere Träume. Rutschte deswegen ins Gewerbe. Ein Bekannter in ihrer Heimat versprach ihr und einer Freundin einen Traumjob in Spanien: als Schauspielerin. Eine Täuschung. In Spanien schafften die Menschenhändler die Frauen in ein Wohnhaus mit Prostituierten, von wo sie diese jeden Abend mit Kleinbussen in die Sexclubs fuhren. Dort mussten sie ein Soll erfüllen: zehn Freier. Sonst drohte ihnen der Tod, sagt sie. Carla stammt aus einem kleinen Dorf, wusste damals nicht einmal, was Vaginalcreme ist, sagt: «Während der ersten beiden Wochen war ich im Überlebensmodus.» Noch schlechter ging es ihrer Freundin. Nachts schlang Carla im Bett ihre Arme um sie, hielt sie fest. Aus Angst, dass diese aufsteht und aus dem Fenster springt. Mithilfe einer Bekannten konnten die Frauen nach vier Monaten fliehen – in die Schweiz.

Das sind die Träume der Prostituierten, die bei Heartwings Hilfe suchten.
Foto: Thomas Meier

Liebe, Erpressung und Gewalt

Geschichten wie diese schlummern in Tausenden von Frauen. Das veranschaulicht das Buch «Piff, Paff, Puff» von Aline Wüst. Die Journalistin war zwei Jahre lang in den Sexmilieus der Schweiz unterwegs. Ihre Recherchen zeigen: Bis zu 95 Prozent der Prostituierten sind Migrantinnen. Bei rund der Hälfte vermuten Experten Zwangsprostitution.

Und das ist der Punkt, darum ist es so schwierig, auszusteigen: Die Frauen stecken fest. Wie Schmetterlinge in einem Spinnennetz. Peter Widmer weiss, was das heisst, holt aus, und man kommt kaum hinterher mit Zuhören, seine Stimme ist sanft, doch sein Sprechrhythmus ist schnell, dringlich, so wie das, was er sagt: «Man kann einer Frau nicht von heute auf morgen aus der Prostitution raushelfen.» Das fängt schon mit dem Einstieg an. Die Frauen kommen mit wenig Geld oder sogar Schulden bei Zuhältern oder Schleppern in eine der teuersten Städte der Welt. Haben oft keine Ausbildung, keine eigene Wohnung, können kein Deutsch. Was sie gelernt haben: mit Sex Geld zu verdienen. Sie denken, sie machten das nur für ein paar Monate und hätten danach genug Geld, um es nach Hause zu schicken und auszusteigen. Doch, sagt Widmer: «Sobald man anfängt, haben sie dich.» Mit Mieten und Abgaben, mit Erpressung und Gewalt.

Das Perfide daran: Der Zwang greift meist subtil. Ist mit psychischer Abhängigkeit zu einem Loverboy verbunden. Die Masche, bei der Männer Frauen bezirzen, zu Freundinnen machen und sie dazu bringen, aus Liebe für sie anzuschaffen. Auch Carla tat das.

Sie erinnert sich noch gut daran, was sie dachte, als sie in Zürich ihren Ex-Freund, einen Freier, zum ersten Mal sah: «Was für ein schöner Mann.» Gross, blaue Augen, glatte Haut – «wie ein Engel», sagt sie. Und so behandelte er sie. Anfangs. Was sie nicht wusste: Er war im Milieu gut vernetzt, vermietete Puffzimmer zu horrenden Preisen. Und fing bald an, sie abzuwerten, nannte sie «hässlich» und eine «Scheissfrau, die ausser ihm niemand sonst will», sagt Carla. Sie glaubte ihm, machte alles, was er verlangte: Sie prostituierte sich für ihn. Ihr halbes Leben lang.

Bis sie das Ehepaar Widmer kennenlernte. Carla traf Widmers an der Langstrasse, erinnert sich: «Sie waren so lieb zu mir, das kannte ich nicht.» Die Begegnung war erst der Anfang. Was folgte: ein langer Weg mit Rückfällen.

Unterwegs in einem Puff-Haus

Widmer hat nun eine Spur zur Nigerianerin. Wir stehen mit ihm in einem Hinterhaus mit Puffzimmern. Essen, schlafen, Männer bedienen – das alles tun die Frauen im gleichen Raum. Es ist ein Kommen und Gehen. Die Atmosphäre: wie in einer Legebatterie. Nur jetzt, am Nachmittag, ist es still, aus einem Zimmer im vierten Stock dringt dumpf eine Frauenstimme durch die Tür. Der Streetworker klopft, und vor ihm steht eine Frau mit Kraushaar und Leggins, in der Hand ihr Handy. Sie lächelt, umarmt Widmer. Er hat sie gefunden.

Die Frau hat viel durchgemacht, kam von Nigeria nach Italien, sagt: «Mit dem Boot von Libyen her, es war gefährlich.» Mehr erzählen mag sie nicht. Ausser: Sie fühle sich besser, fahre am Abend zurück nach Italien, komme aber bald wieder. Widmer gibt ihr die Tüte mit Hygienesachen, sagt: «Gehe besser zurück zu deinen Kindern nach Nigeria und erzähle den Frauen, was du hier erlebt hast.» Sie setzt ein Lächeln auf, muss wieder zurück zu ihrem Freund, der in der Leitung wartet.

Nun steht eine andere schwarze Frau mit Duschtuch um die Hüften gebunden in einem Türrahmen, gähnt, reibt sich die Arme, murmelt: «Cold.» Sie kommt auf Widmer zu, fragt, ob er ihr auch etwas Schönes mitgebracht habe. Er legt ihr ein Bündel mit Geschenkkarten in die Hände. Sekundenlang fixiert sie jede einzelne Karte, als suche sie etwas, wählt dann jene mit einer Taube, die der Sonne entgegenflattert, und lächelt.

Nachts arbeiten die Frauen, tagsüber schlafen sie.
Foto: Thomas Meier

Peter Widmer darf in die Clubs und Bordelle rein, selbst die Freier stören sich nicht an ihm. Er ist eine feste Grösse im Milieu. Auch wegen seines Vorgehens: null Konfrontation. Viel Empathie. Und: Fingerspitzengefühl. Ähnlich wie sein Vorbild auf der Gasse: Pfarrer Sieber. Widmer war früher Pastor in einer Freikirche. Die christliche Prägung war einmal Thema in einem kritischen Zeitungsartikel. Der Vorwurf: Die NGO würde missionieren. Peter Widmer schüttelt darüber den Kopf, sagt, es gehe ihm um konkrete Hilfeleistung aus Nächstenliebe. Und: «Wenn wir mit einer frommen Art auf die Frauen zugehen würden, hätten wir keine Chance im Milieu.»

Der Kanton unterstützt Heartwings

Fest steht: Der Kanton Zürich vertraut Heartwings. Sonst hätte er vergangenes Jahr diese und zwei weitere NGOs nicht mit je 50'000 Franken unterstützt. Explizit für Ausstiegshilfen. Zum ersten Mal überhaupt. Es ist ein Zustupf. Und weit unter dem, was Heartwings ausgibt: Allein ein Platz im Arbeitsintegrationsprogramm kostet 60'000 Franken pro Jahr. Hinzu kommen die Kosten, die anfallen, um die NGO inklusive Büro zu betreiben. Es ist ein Kampf, sagt Widmer. «Ende Jahr zittern wir immer, weils mit dem Geld nur knapp aufgeht.»

Blick in den Second-Hand-Bereich bei Heartwings.
Foto: Thomas Meier

Geld, dank dem Carla ein neues Leben beginnen konnte. Nach der Begegnung organisierte die NGO für sie eine Wohnung, einen externen Ausbildungsplatz als Reinigungsfachfrau und später einen Job. Die Erfolgserlebnisse nahmen zu, so wie ihr Selbstvertrauen. Doch der Ex-Freund liess nicht los, zog sie noch einmal zurück ins Milieu. Für ein paar Jahre. Sie sagt: «Danach war ich psychisch am Ende.» Zum letzten Mal. Heartwings half ihr wieder auf.

Heute lebt Carla in einem anderen Kanton. Im Grünen. Mit Kühen und Schafen hinter dem Haus. Verdient ihr eigenes Geld, mit einer Arbeit, die ihr Spass macht. Sie sagt: «Das macht mich stolz.» Auch weil sie «endgültig mit dem Mann abgeschlossen» und sich einen alten Traum erfüllt habe, wie sie sagt. Als Mädchen wollte sie immer Mutter von fünf Kindern werden. Jetzt steht sie Prostituierten, die zu Heartwings kommen, mit ihrer Erfahrung zur Seite. Macht ihnen Mut. Sie sagt: «Heute bin ich eine Art Mutter für all die Frauen, die aussteigen wollen.»

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