Interview mit Ex-Prostituierten und Aktivistin Huschke Mau
«Prostitution geht uns alle an»

Prostitution basiert darauf, Frauen in Notlagen auszubeuten, schreibt Huschke Mau in ihrem Buch «Entmenschlicht». Nach zehn Jahren gelang ihr selber der Ausstieg. Als Aktivistin kämpft sie heute dafür, dass Menschen nur Sex haben, weil sie es wollen.
Publiziert: 07.05.2022 um 12:10 Uhr
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Aktualisiert: 07.05.2022 um 16:53 Uhr
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In ihrem Buch «Entmenschlicht» zeigt Mau die Missstände im Rotlichtmilieu auf. Ausserdem zeigt sie, wie Frauen in die Prostitution geraten, was sie dort erleben und weshalb es so schwer ist, auszusteigen.
Foto: zVg
Lea Ernst

Frau Mau, Ihr Buch heisst «Entmenschlicht». Wird man als Prostituierte nicht mehr als Mensch wahrgenommen?
Huschke Mau: Als Freier sucht sich der Mann wie auf der Speisekarte einen Frauenkörper aus, den er gegen Geld für eine bestimmte Zeit mietet. Er bezahlt dafür, dass die Frau genau so ist, wie er es will, und keine eigene Person mit eigenen Wünschen mehr ist. Als Prostituierte hat man Sex, den man nicht haben will. Das ist entmenschlichend.

Seit ich Ihr Buch gelesen habe, schaue ich im Tram jeden Mann an und überlege, ob er Sex kauft.
Das verstehe ich, das mache ich auch. Doch gibt es Freier jeden Alters und aus jeder Gesellschaftsschicht. Sie sind Richter, Polizisten, Journalisten. Ich hatte viele Freier, die ausserhalb der Prostitution äusserst respektvoll gegenüber Frauen, manche auch feministisch waren – im Bordell haben sie trotzdem die Sau rausgelassen. Deshalb ist es unmöglich, Freier zu erkennen. Die Eigenschaften, die sie alle gemeinsam haben, sind erst auf den zweiten Blick erkennbar.

Zur Person

Mit 17 lief Huschke Mau, deren Name ein Pseudonym ist, von zu Hause weg. Ihr Leben lang hatte ihr Stiefvater sie, ihre Geschwister und ihre Mutter schwerst misshandelt. Aus finanzieller Not und drohender Obdachlosigkeit geriet sie in die Prostitution. Zehn Jahre später gelang ihr der Ausstieg. Mau machte ein Studium und ist heute Doktorandin an einer ostdeutschen Universität. Sie ist Aktivistin für das Nordische Prostitutionsmodell sowie Gründerin des Netzwerks «Ella» für aktive und ehemalige Prostituierte. In ihrem aktuellen Buch «Entmenschlicht» zeigt sie, wie Frauen in die Prostitution geraten, wie es ihnen dort ergeht und weshalb es so schwierig ist, auszusteigen. Ihr Ziel: eine Gesellschaft, die es nicht mehr als normal empfindet, dass man Frauen kaufen kann.

Mit 17 lief Huschke Mau, deren Name ein Pseudonym ist, von zu Hause weg. Ihr Leben lang hatte ihr Stiefvater sie, ihre Geschwister und ihre Mutter schwerst misshandelt. Aus finanzieller Not und drohender Obdachlosigkeit geriet sie in die Prostitution. Zehn Jahre später gelang ihr der Ausstieg. Mau machte ein Studium und ist heute Doktorandin an einer ostdeutschen Universität. Sie ist Aktivistin für das Nordische Prostitutionsmodell sowie Gründerin des Netzwerks «Ella» für aktive und ehemalige Prostituierte. In ihrem aktuellen Buch «Entmenschlicht» zeigt sie, wie Frauen in die Prostitution geraten, wie es ihnen dort ergeht und weshalb es so schwierig ist, auszusteigen. Ihr Ziel: eine Gesellschaft, die es nicht mehr als normal empfindet, dass man Frauen kaufen kann.

Die wären?
Freier sind Männer, die keine Verantwortung für die andere Person übernehmen wollen, wenn es um Sex geht. Bei prostitutivem Sex geht es einzig und allein um die Sexualität des Mannes. Die Sexualität der Frau ist – ebenso wie ihr Wille und ihre Persönlichkeit – komplett irrelevant. Trotzdem muss die Prostituierte dem Freier das Gefühl geben, dass er der Beste sei. Missbraucht und erniedrigt zu werden und gleichzeitig so tun zu müssen, als fände man das ganz toll, ist das Allerschlimmste.

Glauben Freier, sie hätten ein Recht auf Sex?
Ja. Damit nehmen sie sich aus der Verantwortung: Nicht sie selbst seien schuld, sondern ihr Trieb. Sie wollen Macht und Kontrolle über Frauen ausüben. Eigentlich erwarten sie eine Maschine, die ihnen Nähe vorspielt. Und wenn wir Schmerzen zeigen, sollen wir aufhören, «uns anzustellen». Zurückweisung ist in der Prostitution nicht vorgesehen. Zusammengefasst kann man sagen: Freier sind Männer, die Frauen als Nutztiere sehen.

Wie fühlt sich das als Prostituierte an?
Naja, Freier sprechen ja ganz offen darüber, was sie von uns Frauen halten. Für sie sind wir ein Körper mit ein paar Löchern, der zusammen mit der «Performance», wie die Freier das nennen, bewertet wird. Was wirklich dahintersteckt, also, ob die Frau sich gerade ekelt, Angst hat, sich langweilt, oder wie sie ist, interessiert die Freier gar nicht. Das fühlt sich sehr schlimm an.

Die Schweiz und das Nordische Modell

Die Schweiz ist in Sachen Prostitution eines der liberalsten Länder: Seit 1942 sind Angebot, Konsum sowie das Betreiben von Bordellen legal. Auf Bundesebene gibt es kein Prostitutionsgesetz. Das Strafgesetz regelt in wenigen Artikeln die Verbote wie Menschenhandel, Ausnützung einer Notlage oder Förderung der Prostitution. Einige Kantone haben zusätzliche Verordnungen oder Gesetzesartikel erlassen.

Immer mehr Länder wie Schweden, Norwegen, Island, Kanada oder Frankreich haben mittlerweile das Nordische Modell oder ähnliche Gesetze eingeführt: ein Sexkaufverbot, das nicht die Prostituierten, sondern die Freier kriminalisiert. In der Schweiz polarisiert das Modell. Während es Frauenorganisation wie die Frauenzentrale befürworten, ist es Beratungsstellen wie der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration ein Dorn im Auge. Das Gegenargument lautet, dass ein Sexkaufverbot die Betroffenen nur weiter stigmatisiere und in die Illegalität treibe.

2020 hat die EVP-Nationalrätin Marianne Streiff-Feller (64) eine Motion mit dem Titel «Menschen sind keine Ware – Nordisches Modell für die Schweiz» eingereicht. Der Bundesrat beantragte deren Ablehnung. Die Begründung: «Ein strafrechtliches Sexkaufverbot signalisiert, dass Prostitution gesellschaftlich inakzeptabel ist.»

Die Schweiz ist in Sachen Prostitution eines der liberalsten Länder: Seit 1942 sind Angebot, Konsum sowie das Betreiben von Bordellen legal. Auf Bundesebene gibt es kein Prostitutionsgesetz. Das Strafgesetz regelt in wenigen Artikeln die Verbote wie Menschenhandel, Ausnützung einer Notlage oder Förderung der Prostitution. Einige Kantone haben zusätzliche Verordnungen oder Gesetzesartikel erlassen.

Immer mehr Länder wie Schweden, Norwegen, Island, Kanada oder Frankreich haben mittlerweile das Nordische Modell oder ähnliche Gesetze eingeführt: ein Sexkaufverbot, das nicht die Prostituierten, sondern die Freier kriminalisiert. In der Schweiz polarisiert das Modell. Während es Frauenorganisation wie die Frauenzentrale befürworten, ist es Beratungsstellen wie der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration ein Dorn im Auge. Das Gegenargument lautet, dass ein Sexkaufverbot die Betroffenen nur weiter stigmatisiere und in die Illegalität treibe.

2020 hat die EVP-Nationalrätin Marianne Streiff-Feller (64) eine Motion mit dem Titel «Menschen sind keine Ware – Nordisches Modell für die Schweiz» eingereicht. Der Bundesrat beantragte deren Ablehnung. Die Begründung: «Ein strafrechtliches Sexkaufverbot signalisiert, dass Prostitution gesellschaftlich inakzeptabel ist.»

Was macht diese Einstellung gegenüber Frauen mit unserer Gesellschaft?
Im Bordell lernen Männer, dass es ihnen unter gewissen Umständen egal sein kann, ob die Frau den Sex mit ihnen eigentlich haben will oder nicht. Damit ist ja schon ein grosser Tabubruch begangen. Es ist total gruselig: Würde uns ein Bekannter erzählen, dass er letzte Woche Sex mit einer Frau hatte, er aber keine Ahnung habe, ob sie das auch wollte, wären wir entsetzt.

Sie sprechen die beidseitige Einwilligung zum Sex an – den sogenannten Konsens. Weshalb ist er in der Prostitution nicht möglich?
Es ist unglaublich: Seit der MeToo-Debatte wird so viel über sexuellen Konsens gesprochen, nur in der Prostitution wird er einfach komplett ausgeklammert! Dabei prostituieren sich die allermeisten Frauen aus einer Notlage heraus. In einer Studie sagten 89 Prozent aller Frauen, dass sie sofort aussteigen würden, aber nicht können, weil es für sie die einzige Möglichkeit ist, Geld zu verdienen.

Sie erwähnen im Buch ausserdem die Studie der Psychotherapeutin Sybille Zumbeck. Diese besagt, dass 83 Prozent aller Frauen in der Prostitution ein Kindheitstrauma haben, also familiäre Gewalt miterlebt haben, körperlich misshandelt oder sexuell missbraucht wurden.
Ich persönlich kenne keine einzige Prostituierte, die keine sexuelle Gewaltgeschichte hat.

Wissen das die Freier?
Die meisten vermuten es. Sie wissen ausserdem genau, dass die Frau den Sex mit ihnen eigentlich nicht will. Das ist ihnen aber egal, weil sie ja dafür bezahlt haben. Das ist der Sumpf, aus dem sich Prostitution speist. Was ist das für ein «Job», der grundlegend darauf angewiesen ist, dass es traumatisierte Frauen gibt, die ihn erledigen?

Wie reagieren Sie, wenn jemand plädiert, dass «Sexarbeit» als Beruf wie jeder andere akzeptiert werden soll?
Wenn Prostitution ein Beruf wie jeder andere sein soll, dann müssten wir ihn auch auf der Jobbörse vorschlagen. Ausserdem wäre dann ein «Ey, willst du ficken?» am Abend im Ausgang keine sexuelle Belästigung mehr, sondern ein ganz normales Jobangebot. Wir müssten extrem viele Bereiche komplett neu überdenken. Die unheimliche Konsequenz ist: Sobald wir genauer darüber nachdenken, sehen wir schnell, dass Sex keine Arbeit sein kann. Ein Fall aus München zeigte das gut auf: Wegen horrender Mietpreise vermietete dort ein Mann seine Wohnung an Frauen – statt Miete verlangte er Sex. Es kam zum Prozess, der Aufschrei war riesig, weil der Vermieter die finanzielle Notlage der Frauen so eindeutig ausgenutzt hat. Es ist seltsam, weil genau das in der Prostitution jeden einzelnen Tag passiert. Es spielt doch keine Rolle, ob man dringend eine Wohnung oder Geld für Essen und zum Leben braucht: Da werden Notlagen ausgenutzt.

Wie kommt es, dass die Prostitution trotzdem mitten in unserer Gesellschaft stattfindet?
Weil es bequem ist, nicht hinzusehen. Viele schirmen sich ab, weil sie glauben, das habe nichts mit ihnen zu tun. Dabei geht Prostitution uns alle an. Ob es die eigenen Ehemänner, Brüder, Chefs oder Freunde sind: In Deutschland wie auch in der Schweiz gibt es enorm viele Freier. Als Frau kann es einen stark verunsichern, dem Geschlecht anzugehören, das vom anderen Geschlecht legal gekauft werden darf. Zum Geschlecht zu gehören, das wie eine Ware behandelt und gehandelt wird. Auch wenn man sich selber nicht prostituiert, beschädigt das den eigenen Status als Frau.

Wie reagieren die «anderen» Frauen auf Prostituierte?
Oftmals mit einer sehr grossen Entsolidarisierung. Sie wollen sich unbedingt von den Prostituierten abgrenzen und betonen, dass sie keine von «denen» sind. Dabei sind das, was «solide» Frauen von uns Prostituierten trennt, nur Zufälle und Umstände. Prostitution ist ja kein Charakterzug, mit dem wir geboren wurden. Wir sind nicht anders als andere Frauen. Doch gibt es vier Faktoren im Leben, die die Gefahr massiv erhöhen, in die Prostitution abzurutschen.

Welche vier Faktoren?
Erstens die sexuelle oder körperliche Gewalt in der Kindheit. Zweitens die Abwertung als Frau, also dass man wegen seines Geschlechts sexualisiert oder herabgesetzt wird. Der dritte Faktor ist Armut oder eine finanzielle Notlage. Und viertens eine Person, die einem beim Einstieg hilft.

Also Menschenhändler und Zuhälter.
Genau. Bei mir war das ein zehn Jahre älterer Polizist, der mit mir seine eigenen Schulden tilgen wollte. Weil mir die Obdachlosigkeit drohte, war ich verzweifelt genug, mitzumachen. Vielleicht treffen einige meiner Erfahrungen auch auf andere Frauen zu – oder eben nicht. Dann haben sie Glück gehabt. Das Buch habe ich unter anderem geschrieben, um Frauen zu zeigen: Ihr und ich, wir sind Schwestern. Ihr könntet in meiner Situation gewesen sein. Deshalb wünsche ich mir, dass ihr solidarisch seid.

Sie setzen sich für das Nordische Modell ein, dafür, dass Freier kriminalisiert werden. Welchen Unterschied macht es, ob der Sexkauf verboten ist oder nicht?
Gesetze haben eine normative Wirkung. Das heisst, dass sich die meisten Menschen an sie halten. Ist der Sexkauf wie im Nordischen Modell verboten, reduziert sich die Anzahl Freier. Und dort, wo sich eine Nachfrage reduziert, reduziert sich immer auch das Angebot.

Wird es für die Prostituierten sicherer oder unsicherer?
Verschiedene Studien haben belegt, dass die Prostitution durch das Nordische Modell sicherer oder zumindest nicht unsicherer wird. Durch die Illegalisierung der Freier können sich Prostituierte jederzeit an die Polizei wenden, ohne dass ihnen etwas passiert. Die Freier treten nur schon deswegen weniger gewalttätig auf, weil sie genau wissen, dass sie eine Straftat begehen.

Und wie verändert es die Gesellschaft?
Es kommt zum Wandel: Die Anzahl Männer, die unfähig sind, sexuellen Konsens herzustellen, nimmt ab. In Schweden gilt das Nordische Modell seit über zwanzig Jahren. Dadurch ist eine Generation entstanden, die es sich nur noch sehr schwer vorstellen kann, eine Frau zu kaufen. Dadurch, dass kein Geschlecht das andere kaufen kann, verbessert sich die Stellung der Frau enorm. Ob in Deutschland oder in der Schweiz: Ich wünsche mir ebenfalls eine Gesellschaft, in der es normal ist, dass Menschen Sex haben, weil beide Lust darauf haben – und nicht, weil es Umstände gibt, die sie dazu zwingen.

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