Er sitzt nur zwei Meter über dem Boden und sieht alles. Er sieht, wenn wir unsere Maske unter statt über der Nase tragen, im Wartehäuschen eilig etwas in unseren Laptop hämmern, uns die Ohren zuhalten, weil ein ankommender Zug so laut pfeift. Er sieht Alltagssituationen auf dem Perron. Menschen. Raoul Müller (33) fährt deshalb gerne mit dem Zug ein. Dann ist er ein Voyeur. Und kreativ. «Manchmal denke ich mir Geschichten darüber aus, was diese und jene Person im Leben macht, was sie bewegt.»
Raoul Müller ist seit elf Jahren Lokführer. Einer von 3500 bei den SBB. «Auf dem Perron erkennt er seine Kollegen an der etwas steifen Körperhaltung», sagt er, «arbeitsbereit.»
Wir treffen ihn in Zug, an einem Mittwoch im Oktober. Im Café Glücklich genehmigen sich die Ersten ein Feierabendbier, als er ein paar Meter entfernt seine Schicht anfängt. 18.22 Uhr, er steigt in den Regionalzug «Flirt» nach Sursee: Etwas über hundert Tonnen schwer und leise wie eine Waschmaschine, ausser wenn man die Bremsen prüft – dann schnauft das Ungetüm laut aus. Wegen Corona steigen wir hinten in das Passagierabteil ein. Müller hängt derweil vorne seine Jacke im Führerstand auf, dann dreht er den Schlüssel um. «Danach gibt es einen Klapf.»
Einen Klapf erlebte sein Arbeitgeber, die SBB, vor ein paar Wochen. Als herauskam, dass 210 Lokführer fehlten. Jeden Tag fahren nun 200 Züge weniger. Die Aargauer fühlen sich wegen der vielen Ersatzbusse als «Fahrgäste zweiter Klasse». Auch die Nummer zwei in der Branche, die Berner BLS, schlug intern Alarm. Das gab der Lokomotivführerverband VSLF Ende Sommer bekannt. Er warnte: Auf jeden Lokführer kämen mittlerweile im Schnitt 15 Tage Überzeit.
Die Lage wird sich weiter verschärfen: In den nächsten Jahren gehen viele in Pension. Nachwuchs rückt nicht schnell genug nach. Im September räumte der neue SBB-Chef Vincent Ducrot (58) vor den Medien ein: «Neue Lokführer wachsen nicht einfach aus dem Boden.» Die SBB hätten es jahrelang verschlafen, Lokführer zu rekrutieren. Sein Vorgänger Andreas Meyer (59) sagte kürzlich der «NZZ»: «Ich schäme mich.»
Bubentraum Lokführer
Der Lokführermangel stellt uns alle vor ein Problem: Menschen wie Raoul Müller machen möglich, dass wir hier wohnen und da arbeiten, in einem Tag von überall aus irgendwo auf einen Berg klettern, die Grosskinder besuchen können. Ohne sie steht unsere Gesellschaft still. Sie sind systemrelevant. Warum also steigen so viele aus oder gar nicht erst ein?
Für Raoul Müller war Lokfahren ein Bubentraum. Mit zwölf fuhr er allein quer durch Europa. Seine Mutter war sich nicht sicher, ob die Idee gut ist, aber sie hatte auch keine andere Wahl, sagt er. «Ich wäre sowieso gegangen.» Und sie wusste: Raoul kennt die Verbindungen, egal wo er ist. Und so sitzt er nun vor Bildschirmen mit Zugdaten, einem Joystick, einem Mikrofon. In der Stille seiner Kabine guckt er zu, wie sich vor ihm die Rigi-Region in der Dämmerung ausbreitet, Fussballer im Flutlicht Bälle kicken, ein weisser Golf fast in einer Parklücke stecken bleibt und wie im Innern der unzähligen Flachbauten Abendessen geschöpft wird. Müller fühlt den Puls unserer Gesellschaft. Dafür hat er einmal ein Wirtschaftsstudium an einer Eliteuni abgebrochen.
Früher war die Lokomotive das beste Stück des Zugs. Der Mann darin kam gleich nach dem lieben Gott. Zur Zeit der Dampfloks herrschten im offenen Führerstand auch noch Temperaturunterschiede wie vor einem Kamin: brütend heiss vor dem Feuerloch des Heizers, eiskalt und windig im Rücken. Sie ertrugen viel, diese Lokführer, sie waren stolz. Auf die Modelle, die sie fuhren, auf ihren Berufsstand. Und kleine Jungen träumten davon, im Führerstand etwas von der grossen Welt zu sehen.
Der Bubentraum ist geplatzt. Fragt man Raoul Müller, ob er die Ausbildung noch einmal machen würde, zögert er. «Ich glaube schon.» Düsterer klingt es bei seinen Kollegen. Im Magazin des Lokführerverbands VSLF, bei dem Müller im Vorstand sitzt, sammeln sich die Klagen. Über den Jahreslohn von etwa 70’000 bis 103’000 Franken. Das sei nicht so schlecht, aber es dauere ewig, bis man den Spitzenlohn erreiche. Oder über Überstunden. Ein Kollege von Müller hatte mit 25 ein Burnout, er ist einer von wenigen. «Aber», sagt Müller, «manche meiner Kollegen haben das Gefühl, sie würden das Unternehmen retten, wenn sie bis zur Erschöpfung arbeiten.»
Fahrten an immer gleiche Orte
Verantwortlich für die Unzufriedenheit sind die SBB. Nicht nur wegen der Fehlplanung. Das weiss Walter von Andrian, der Chefredaktor der «Schweizer Eisenbahn-Revue». Heute seien die Lokführer zu stark spezialisiert. Sie würden nicht mehr so ausgebildet, dass sie die meisten Züge bedienen können – und auf vielen Strecken fahren. «Das war eine Sparmassnahme der SBB.» Die nun aber viel kostet. Wenn in Brugg ein Lokführer ausfällt, sitzt der nächste geeignete Reserve-Mann oft weit weg und muss eventuell sogar mit dem Taxi geholt werden, wie BLICK berichtete.
Ein SBB-Sprecher wehrt sich: Die Spezialisierung sei nicht primär aus Kostengründen erfolgt. Damit Lokführer strecken- und zugtauglich bleiben würden, müssten sie ihre Strecken und Zugtypen eine gewisse Anzahl Male pro Jahr fahren. «Bildet die SBB ihr Lokpersonal zu breit aus, verkompliziert die Erhaltung der Tauglichkeit anschliessend die Einsatzplanung.»
Das ändert nichts an den Folgen. «Für einen Lokführer gibt es nichts Langweiligeres, als immer die gleiche Strecke zu fahren», sagt von Andrian.
Diese Monotonie ist tückisch. «Man muss aufpassen, dass man nicht anfängt, zu träumen», sagt Raoul Müller. Wenn er müde wird, sagt er die Signale, an die er heranfährt, laut vor sich hin. Es gibt viele Tricks. Und sonst greift das Zugsicherungssystem ein. Nach 1600 Metern geht der Alarm los, ohrenbetäubend. Wenn er nicht sofort reagiert, gibt es eine Vollbremsung.
Früher machte man zuerst eine Mechaniker- oder Elektrikerlehre, damit man selbst etwas reparieren konnte. Heute bringt das nichts mehr. Der Fortschritt hat aus den Zügen fahrende Computer gemacht. Und das macht Angst: «Viele fürchten, dass sie überflüssig werden», sagt Eisenbahnexperte von Andrian. Er weiss auch wieso: «Man hat das Berufsbild der Lokführer in der Öffentlichkeit kaputt gemacht.» Auch wegen Ex-CEO Meyers Träumereien von selbstfahrenden Zügen. Vor drei Jahren testete er vor einem Tross Journalisten einen solchen auf der Strecke Bern–Olten.
Jetzt, nach dem Chefwechsel, klingt es anders. Auf Anfrage schreibt ein Sprecher: «Führerlose Züge sind – wenn überhaupt technisch jemals machbar – aktuell kein Ziel der SBB.» Man bedauere, dass die Aussagen von damals bei den bestehenden und potenziellen Lokführern zu Unsicherheiten geführt haben.
Wir führen uns auf wie Prinzessinnen
Wir alle sollten aber über die Bücher, wir sind nämlich Teil des Problems. Raoul Müller sagt: «Manchmal höre ich, wir seien die besseren Lastwagenfahrer.» Das ist symptomatisch. Wir sehen nicht, welche Verantwortung Lokführer tragen, manchmal für mehr als tausend Passagiere. Wir erwarten, dass sie uns im Sommer zu unseren Festivals chauffieren, mit Extrazügen, was viele Überstunden verursacht. Wir meckern über ein paar Minuten Verspätung, worum uns unsere Nachbarländer beneiden.
Dabei sind Verspätungen für Raoul Müller selbst ein Graus. Er liebt Statistiken, Zahlen und einen eng gesteckten Rahmen – «damit wenig schieflaufen kann». Etwa 95 Prozent seiner Züge fahre er pünktlich. Die anderen fünf Prozent geschehen meist während der Rushhour. Innert Minuten müssten sich dann viele Züge auf wenigen Gleisen aneinander vorbeischlängeln. Wenn auch noch einer bei einem Stopp die Türe blockiere, verliere er bis zu einer Minute. Das summiere sich. Es sei nicht böse gemeint, wenn er den Leuten vor der Nase wegfahre. «Wir sind keine bösen Menschen.»
Doch wir behandeln ihn wie einen. Wir zeigen belehrend auf unsere Armbanduhr und strecken ihm unseren Mittelfinger entgegen, wenn er verspätet einfährt. Oder passen ihn ab, wenn er aus dem Führerstand kommt. «Alles schon erlebt.»
Und dann müssen er und seine Kollegen auch noch mit Suiziden umgehen. Zahlen geben die SBB keine heraus, aus Vorsicht. Raoul Müller sagt, dass es einen Lokführer im Schnitt ein bis zwei Mal in vierzig Jahren treffe. Er hat es schon erlebt, kam aber damit zurecht. Eine Kollegin von ihm wechselte danach den Beruf. Schwieriger war es, als Kinder einmal vor ihm auf den Gleisen mit Schneebällen herumwarfen. Er hornte, und sie sprangen weg. Zwei bis drei Minuten später wäre dort ein Schnellzug vorbeigerast. «In jener Nacht habe ich schlecht geschlafen.» Das Verrückte ist: «Es passiert schier täglich, dass einer auf der Perronkante balanciert.»
In den letzten Wochen las man, dass sich jetzt Piloten bei den SBB melden. Ob sie für den Job geeignet sind, wird sich zeigen. Lokführer findet man nicht beliebig auf dem Arbeitsmarkt, sagt Eisenbahnexperte von Andrian. «Sie müssen einen bestimmten Charakter haben.» Geduldig, sorgfältig, konzentrationsfähig und verantwortungsbewusst müsse einer sein. Kein Draufgänger oder risikofreudiger Sportlertyp.
Ein Dankeschön für Lokführer
Mitte nächsten Jahres soll sich die Lage laut den SBB entspannen. Auch wegen der derzeit 340 Lokführer in Ausbildung. Doch reichen wird das nicht: Die Bevölkerung wächst weiter, die grüne Welle lockt die Menschen in die Züge. Und wegen der Pensionierungswelle fehlen in den nächsten Jahren 1000 Lokführer. Deshalb will man die Lokführer künftig breiter ausbilden, sagt das Bahnunternehmen auf Anfrage: Damit sie wieder mehrere Strecken und Zugtypen fahren können. Das soll den Beruf attraktiver machen.
Dann könnten Raoul Müller und seine Kollegen vielleicht auch wieder ihre Lieblingsstrecken fahren. Jene von Freiburg nach Lausanne sei sensationell. «Wenn du im Lavaux aus dem Tunnel fährst, hast du das Gefühl, du schwebst über dem Genfersee.»
Vielleicht braucht es aber auch einfach mal eine Klatsch-Aktion für Lokführer. Oder ein Dankeschön, wenn einer aus dem Führerstand steigt. An jenem Mittwoch fährt Raoul Müller um 19.11 Uhr in Luzern ein. Vier Minuten Verspätung, weil er unterwegs andere Züge abwarten musste. Er ärgert sich nicht, keine Zeit. Er packt Jacke und Rucksack und macht sich auf den Weg zum Ende des Zugs, im Sackbahnhof ist das nun die neue Spitze. Weiter gehts. Wieder zurück nach Zug.