«Die Kinder sind die grössten Leidtragenden»
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Unicef-Schweiz-CEO:«Die Kinder sind die grössten Leidtragenden»

Unicef-Schweiz-Chefin im Interview
«Das ist nicht akzeptabel»: Junge mit psychischen Problemen allein

Das Parlament vernachlässige die immer drängenderen Probleme junger Menschen in der Schweiz. Das kritisiert Bettina Junker, Geschäftsleiterin von Unicef Schweiz, im Interview.
Publiziert: 23.12.2023 um 17:22 Uhr
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Aktualisiert: 24.12.2023 um 16:16 Uhr
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Laut Unicef schätzt dritte Jugendliche in der Schweiz seine oder ihre psychische Gesundheit als schlecht ein.
Foto: Keystone
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Vanessa MistricRedaktorin

Frau Junker, dieses Jahr wurden in der Schweiz über 70'000 Kinder geboren. Ist es eine gute Zeit, um hier aufzuwachen?
Bettina Junker: Wer hier aufwächst, kann sich glücklich schätzen. Jedes Kind kann zur Schule gehen, die gesundheitliche Versorgung ist gut. Das ist leider nicht selbstverständlich. Doch auch hier ist die Kinderrechtskonvention nicht in allen Punkten umgesetzt. Kinder und Jugendliche können noch zu wenig mitreden bei Entscheiden, die sie betreffen. Dabei wäre es durchaus möglich, sie auf altersgerechte Weise miteinzubeziehen, beispielsweise beim Thema Schulweg oder Jugendtreff. 

Was bereitet Unicef die meisten Sorgen mit Blick auf das Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz?
Jeder dritte Jugendliche sagte in einer Unicef-Studie: «Meine psychische Gesundheit ist nicht gut.» Und, was mich persönlich besonders erschüttert hat, jeder elfte hat schon einen Suizidversuch gemacht. Das sind zwei pro Schulklasse. Die Corona-Pandemie, wo plötzlich alle zu Hause waren, teils in beengten Wohnverhältnissen, hat bereits bestehende psychische Probleme noch weiter verschärft. 

Ein Punkt ist mir bei der Unicef-Studie besonders ins Auge gestochen: Die allermeisten Jugendlichen reden mit niemandem über ihre psychischen Probleme.
Das ist immer noch ein grosses Tabu. Es gibt zwar Stars, die öffentlich über ihre psychischen Probleme reden. Und das Thema ist allgemein präsenter in den Medien. Entscheidend ist aber: Habe ich jemanden in meinem Umfeld, mit dem ich gut über meine psychische Verfassung reden kann? Reden zum Beispiel meine Eltern offen über psychische Gesundheit, sind sie für das Thema sensibilisiert? Kann ich mich jemandem anvertrauen, ohne abgestempelt zu werden? Wer schwierige Verhältnisse in der Familie erlebt oder zum Beispiel Mobbing im Kindergarten, tut sich oft besonders schwer damit, sich anderen anzuvertrauen. 

Persönlich

Bettina Junker (57) ist seit Januar 2019 Geschäftsleiterin von Unicef Schweiz und Liechtenstein. Vorher war sie unter anderem in der Geschäftsleitung der Krebsliga Schweiz. Junker studierte an der Universität Zürich Germanistik, Publizistik und Französische Literatur.

Bettina Junker (57) ist seit Januar 2019 Geschäftsleiterin von Unicef Schweiz und Liechtenstein. Vorher war sie unter anderem in der Geschäftsleitung der Krebsliga Schweiz. Junker studierte an der Universität Zürich Germanistik, Publizistik und Französische Literatur.

Wenn junge Menschen mit psychischen Problemen keine professionelle Hilfe erhalten, ist das höchst bedenklich. Wo versagt die Politik?
Es gibt kaum niederschwellige Anlaufstellen, an die sich Jugendliche gerne wenden. Nur drei Prozent nutzen die öffentlichen Angebote. Wenn Jugendliche einen Therapieplatz suchen, müssen sie oft sechs Monate warten. Das ist in einem reichen Land wie der Schweiz intolerabel. Zum Teil werden psychisch belastete Minderjährige aus Platzmangel in Strafvollzugsanstalten untergebracht. Das ist eine eklatante Verletzung der Kinderrechte. Die Schweiz muss allgemein dringend mehr und bessere Betreuungsangebote schaffen, für die steigende Anzahl von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Problemen. Ebenso wichtig ist eine gute Prävention. Wir müssen die psychische Gesundheit der Kinder endlich ernst nehmen und etwas dafür tun. Es wird nicht von allein besser. 

Jugendliche forderten kürzlich unter anderem ein Schulfach Psychologie, eine Mental-Health-Website und verpflichtende Kurse für werdende Eltern. Was tut Unicef, damit ihre Stimmen in Bern Gehör finden?
Wir wollen gezielt bei National- und Ständeräten sowie in der Verwaltung für die Anliegen lobbyieren. Uns ist wichtig, dass die Jugendlichen angehört und miteinbezogen werden, wenn das Parlament die Anliegen diskutiert. Wir arbeiten derzeit an einem Kinderrechtebarometer, der jährlich Daten zum Wohlbefinden sammeln soll. 

Unicef kritisierte unlängst den zunehmenden finanziellen Druck auf Familien. Wie stark leiden Kinder und Jugendliche darunter?
Die Zahl der armutsgefährdeten Kinder nimmt drastisch zu in der Schweiz. Mit armutsgefährdet meine ich: Die Eltern müssen mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens auskommen. Für eine alleinerziehende Person mit zwei Kindern heisst das mit 4000 Franken im Monat. Eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern muss mit 5250 Franken über die Runden kommen. Die Preise sind merklich gestiegen, und zwar in allen Lebensbereichen: Energie, Nahrungsmittel, Krankenkasse, Mobilität und Mieten. Die betroffenen Familien geben einen Grossteil ihres Einkommens für diese grundlegenden Bedürfnisse aus.

Welche Auswirkungen hat das im Kinderalltag?
Armut heisst in der Schweiz nicht Kampf ums Überleben, sondern soziale Ausgrenzung. Das Kind kann in keinen Sportverein gehen, es schämt sich, Freude nach Hause einzuladen. Die finanziellen Probleme können sich auch negativ auf die psychische Gesundheit auswirken. Schon die Kleinsten bekommen mit, wenn die Eltern finanzielle Sorgen haben, und das bedrückt sie. Für Jugendliche kann es zudem belastend sein, wenn sie in beengten Wohnverhältnissen aufwachsen. Ihnen fehlt ein Ort, an dem sie sich zurückziehen können. Sie können Konflikten zu Hause nicht aus dem Weg gehen, haben keine Ruhe zum Lernen.

Welche politischen Massnahmen sind aus Ihrer Sicht nötig, um die finanziellen Probleme abzufedern?
Finanzielle staatliche Hilfen für armutsbetroffene Kinder und Familien geraten zunehmend unter Druck und sind teils sogar rückläufig. Das ist aus unserer Sicht etwas, was absolut nicht passieren darf. Wir müssen Sozialhilfe, Prämienverbilligungen und Kinderzulagen ausbauen, wenn wir Kinderarmut reduzieren wollen. 

Wie war 2023 für die Kinder und Jugendlichen weltweit?
Die Weltöffentlichkeit schaut aktuell vor allem auf Gaza, Israel und die Ukraine. Doch auch an vielen anderen Orten leben Kinder in erbärmlichen Zuständen. Ich nenne zum Beispiel Mali, weil mir dieser Tage ein Kollege von den erschütternden Zuständen vor Ort berichtet hat. Wegen des bewaffneten Konflikts ist der Schulweg für Kinder zu gefährlich, sie geraten in Konflikte, werden entführt oder als Kindersoldaten akquiriert. Dort wächst eine ganze Generation auf, die keine Schulbildung hat. 

Mit welchem Gefühl blicken Sie auf das neue Jahr?
Ich wünsche mir, dass Kinder in Frieden aufwachsen können. In einem Umfeld, das sie fördert, schützt und ihnen erlaubt, gesund aufzuwachsen. Wir haben aber unglaublich viele Konfliktherde. Weltweit sind aktuell rund 300 Millionen Menschen dringend auf humanitäre Hilfe und Schutz angewiesen – so viele wie noch nie. Immer mehr Gebiete erleben Klimaschocks. Beispielsweise blieben am Horn von Afrika in den vergangenen Jahren die Regenzeiten aus, über zwei Millionen Menschen wurden intern vertrieben. Die multiplen Krisen führen dazu, dass zu viele Krisen in Vergessenheit geraten sind und weniger Hilfsgelder zur Verfügung stehen. Das macht unsere Arbeit in diesen Ländern besonders herausfordernd. 

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Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in Krisen und für ihr Umfeld da:

Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben

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