Wieder aufstehen
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Scheitern in Corona-Zeiten:So stehen wir wieder auf – erfahrene Menschen erzählen

Über das Scheitern
Wieder aufstehen

Die Pandemie zerstört Lebensentwürfe, Träume, Existenzen. Wir scheitern im Kollektiv. Unsere Autorin hat mit Menschen gesprochen, die wissen, wie sich das anfühlt: tief zu fallen – und sich wieder aufzurappeln.
Publiziert: 02.04.2021 um 15:18 Uhr
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Aktualisiert: 07.04.2021 um 15:46 Uhr
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Sie hilft Menschen: Anke Scheel-Sailer (54), leitende Ärztin im Paraplegiker-Zentrum Nottwil.
Foto: Nathalie Taiana
Rebecca Wyss

In Nottwil LU sterben Identitäten, blättern ab, wachsen anders neu. Das fängt für viele schon in dem Moment an, in dem sie mit dem Helikopter ins Paraplegikerzentrum geflogen werden, vielleicht noch künstlich beatmet, vielleicht bei Bewusstsein. In jenem Moment, in dem sie eine Ärztin im Schockraum untersucht, diese die Füsse berührt und sie nichts spüren.

Danach liegen sie auf der Intensivstation bei all den anderen Menschen, die von der Hüfte oder vom Hals an abwärts gelähmt oder teilgelähmt, Paraplegiker oder Tetraplegiker sind. Müssen mit einer Katastrophe fertig werden. Und dem Wie, das sie dort hingebracht hat: vielleicht ein Köpfler an der falschen Seestelle, ein Sturz beim Skifahren oder eine Krankheit. Sie müssen nun das Leben wieder neu lernen. Wie ein Kind. Über viele Monate. Weil sie im alten gescheitert sind.

Das Wort «scheitern» stammt aus der Schifffahrt. Wenn ein Schiff auf einen Felsen aufläuft, zerschellt, zerscheitert es. Es ist fahruntauglich. Scheitern ist absolut. Wie der Tod. Das ist ein Fakt, keine Wertung. Scheitern hat per se nichts mit Schuld zu tun.

Diese Erfahrungen machen wir gerade als Kollektiv. Tausende sind schweizweit wegen Corona gestorben, unzählige bangen um ihre Existenz oder stehen heute schon vor dem Nichts. Unverschuldet. So wie die Menschen in Nottwil. Sie sind Tag für Tag mit ihrem ultimativen Scheitern konfrontiert und geben trotzdem nicht einfach auf. Von Nottwil wollen wir lernen – und fragen: Wie rappelt man sich wieder auf?

In diesem Text werden uns drei Menschen begegnen, die sich in ihrem Leben oder ihrem Beruf mit dem Scheitern befassen mussten. Menschen wie Anke Scheel-Sailer (54), die als leitende Ärztin und erfahrene Motivatorin in Nottwil vielen wieder aufgeholfen hat. Martin Steiners (60) Existenz stürzte zusammen, als er sein Priesteramt niederlegte – wegen des Zölibats. Und Theo Wehner (72) ist in seiner langjährigen Forschungsarbeit an der ETH vielen Gescheiterten begegnet. Ihnen allen ist schon mal eine fundamentale Erkenntnis gemein: Wenn wir die neue Realität nicht akzeptieren, zerbrechen wir an ihr.

Am Zölibat scheitern

Ein Vierteljahrhundert ist schon vergangen, aber die Szenen des einen Pfingstwochenendes kann Martin Steiner nicht mehr vergessen. Jenes Abendessen, bei dem er der Familie eröffnete: Ich will nicht mehr Priester sein. Sein Vater brachte keinen Bissen mehr runter, schwieg für Stunden. «Ich hätte meinem Vater nichts Schlimmeres antun können.» Anderntags kamen die Geschwister dazu, religiös wie die Eltern, fielen sich weinend um den Hals, als wäre jemand gestorben. An jenem Pfingstwochenende starb tatsächlich etwas: «Ein Ideal», sagt Steiner jetzt an einem Tag im März in Bern.

Steiner wuchs in Kärnten, Österreich, als ältestes von sechs Kindern auf. Kärnten, die Familie – beides war katholisch durch und durch. Gebete und Messgang gehörten zum Alltag. Als Priester war er der Stolz der Familie. Auf einen Schlag wurde er zum Abtrünnigen – das blieb für eine Weile so.

Am meisten rang er mit sich selbst. Schon mit fünf wollte er Bischof werden, später war er Jugendseelsorger und Pfarrer. «Leidenschaftlich gerne», sagt er. Weil er so Menschen durch Höhen und Tiefen ihres Lebens habe begleiten können. Steiner mag Menschen. Mag auch Frauen. Er konnte ihnen nicht ausweichen, traf sie bei der Jugendseelsorge, in den Messen. Hier ein Blick, da ein kurzes Gespräch – und bald schon ein heimliches Treffen. «Verliebtsein ist bei mir wie ein Sprit», sagt er und lächelt. Dafür brach er immer wieder das Zölibat. Das verdrängte er, es passte nicht zu seinem Selbstbild als idealer Priester. Trotzdem litt er immer mehr darunter. Am Ende brannte er aus. Nach Jahren der Krise, mit 36, war ihm plötzlich klar: «Das Leben hält mehr bereit für mich.»

Scheitern kann nur, wer ein Ziel hat. Und das ist ein Phänomen aus der Neuzeit. Der Mensch im Mittelalter hatte keine Lebenspläne, die hätten scheitern können. Gott machte alle Pläne. Der Mensch musste einzig seine Existenz sichern, die immer auf der Kippe stand.

Der Schweizer Knacks

In gewissen westlichen Kulturen gehört das Scheitern dazu. In den USA zum Beispiel. Das Land gründet auf Vorfahren, die ins Ungewisse hinein auswanderten, auf gut Glück. Dort entwickelte sich eine Bereitschaft, wieder von vorne anzufangen.

Bei uns ist das anders, sagt Theo Wehner, Organisationspsychologe der ETH Zürich. «In der Schweiz haben wir das Problem, dass nur perfekt sein gut genug ist.» Das berge ein riesiges Potenzial zum Scheitern. Wehner hat viele Gescheiterte befragt, hat auch schon eine Ausstellung zum Thema kuratiert. Er sagt: «Es braucht einen Kulturwandel.»

Zu 99 Prozent gelingt es uns, alles richtig zu machen. Wir gründen erfolgreich Unternehmen, bestehen Aufnahmeprüfungen, behalten Jobs. Eigentlich könnten wir staunen über das eine Prozent und schauen, wo dies uns hinführt. «Aber in unserer leistungsorientierten Kultur geht es immer gleich darum: Wer wars? Und wie wird das abgestellt?»

Das führt dazu, dass wir heute schon «am Joghurt-Regal scheitern», wenn uns die Auswahl überfordert. «Wir beginnen schon da über Scheitern oder Erfolg nachzudenken, wo es noch gar nicht nötig ist», sagt er. Verstärkt noch in diesen Pandemiezeiten. «Da wird jetzt oft vom Scheitern des Bundesrats gesprochen.» Dabei liege meistens ein Irrtum vor. Einen Irrtum begeht, wer sich täuscht, einen Fehler, wer es eigentlich besser weiss. Weder der Bundesrat noch die Wissenschaft wüssten derzeit, welches der einzig richtige Weg sei. Trotzdem rechnet man heute schon ab. Man sucht Schuldige. Ein altes, christliches Muster.

Schuld – dieses Gefühl kennt Martin Steiner gut. Er dachte damals, er sei von Gott abgefallen, eine Todsünde. Und lebte in einem ständigen Wechselbad der Gefühle. «Ich fühlte mich frei und mutig, dann wieder wie ein Verräter und Versager.» Er schämte sich, sprach später viele Jahre nicht darüber, dass er einmal Priester gewesen war. Was ihn trug, war die Gewissheit, dass der alte Weg nicht mehr stimmte. Der neue führte ihn in die Schweiz: In einem Kloster in Neuenburg fand er eine neue Stelle.

In der Bibel beginnt das Scheitern schon mit Adam und Eva. Ihrer Unfähigkeit, den Verlockungen des Baumes der Erkenntnis zu widerstehen. Diese Vorstellung der Erbsünde beschäftigt uns, selbst die Ungläubigen, bis heute. Dabei gibt es auch gnädigere Passagen in der Bibel. Jesus wird gekreuzigt und darf wiederauferstehen. Das heutige Osterfest ist Ausdruck des Scheiterns. Und des Neuwerdens.

Nach einem Schicksalsschlag wieder bei null anfangen

Auf der Reha in Nottwil geht es genau darum: um den Wiederaufbau zusammengefallener Lebensentwürfe. Anke Scheel-Sailer (54), leitende Ärztin in der Paraplegiologie und Rehabilitation, ist von Anfang an dabei. Sieht, wie die Patienten zuerst in einen Schockzustand verfallen, weder Schmerz noch Trauer, einfach gar nichts mehr fühlen. Dieser Schutzmechanismus federt den Aufprall ab, um das Erlebte überhaupt aushalten zu können. Die Psychologie nennt das Airbag-Effekt. Später meldet sich ein erstes neues Körpergefühl: Tetraplegiker nehmen sich oft nur als Kopf wahr, der im Raum schwebt – wie ein Gespenst. Die Körperwahrnehmung ändert sich später, aber in jenen Momenten wollen manche nicht mehr leben.

Anke Scheel-Sailer hat ihr ganzes Arbeitsleben danach ausgerichtet, solchen Menschen wieder aufzuhelfen, sie hat drei Facharzttitel gemacht, viel Zeit, viel Kraft investiert. Was in diesen dunklen Stunden wirklich motiviert, hat sie aber vor allem in ihren 25 Jahren im Job erfahren. Sie sagt: «Menschen machen Fortschritte, wenn sie Hoffnung haben.» Ein Paradigmenwechsel in der Medizin. Sie hat einen Zwanzigjährigen begleitet, der anfangs weder schlucken noch atmen konnte und am Schluss auf zwei Beinen rausspazierte. Ganz wenige haben einen so guten Verlauf. Aber es gibt sie. Wenn Anke Scheel-Sailer jetzt also ans Bett ihrer Patienten tritt, sagt sie nicht: Vergessen Sie’s. Sie sagt: Warten wir ab. Auch wenn sie im Studium gelehrt bekam, jede Hoffnung abzuwürgen – bis in die 50er war eine Querschnittlähmung ja auch noch ein Todesurteil.

Hoffnung entsteht durch menschliche Nähe. In Nottwil unterstützt ein ganzes Team von Ärzten, Physio-, Ergo-, Psychotherapeuten und Pflegefachleuten die Menschen. Samuel Koch (33), der in der «Wetten, dass..?»-Sendung verunglückte und 2011 in Nottwil war, sagte einmal in einem Interview: Neue Lebenskraft habe er dank seiner Therapeutin in Nottwil schöpfen können. So geht es vielen hier.

Nicht bloss Ärztin, sondern vor allem Mensch

Auf ihren Visiten tastet Anke Scheel-Sailer nicht einfach nur den Körper ab. Bei jedem Patienten versucht sie, etwas über ihn oder sie zu erfahren, ihm oder ihr das Gefühl zu geben, gesehen zu werden. Wie kürzlich an einem Freitag, 11 Uhr, im Zimmer von Christian Roth (60).

Bis vor ein paar Wochen fuhr er als Techniker täglich zu Kunden. Jetzt ist er wegen einer Durchblutungsstörung im Rückenmark hier. Kann nur noch Arme und Hände bewegen. Und mit diesen hat er Pläne: Wieder sattlen. «Das ist mir ganz wichtig.» Noch sind die Finger steif. «Ich mache jeden Tag meine Übungen», sagt er zu Scheel-Sailer. Wenn er mit beiden Händen wieder ein schönes Stück aus Leder büezen könne, sei er zufrieden, «Ziel erreicht». Und darum geht es hier letztlich, um Ziele, ohne die käme kein Patient weiter. Noch im Februar war für Christian Roth klar, dass er nur glücklich wird, wenn er wieder gehen kann. «Da hat sich etwas getan, das sind Glücksmomente für uns», sagt Scheel-Sailer.

Bei solchen Visiten spricht sie zuerst immer die schwierigen Themen an, schwenkt dann um, wird heiter. «Wenn der Patient lächelt, wenn ich aus dem Zimmer gehe, weiss ich: Ziel erreicht, das tut ihm oder ihr gut.» Anke Scheel-Sailer begegnet den Menschen nicht nur als Ärztin, sondern vor allem als Mensch. Mit all ihren Emotionen. Jeden Tag. Das kostet Kraft. «Um das zu können, muss ich gut zu mir schauen. Da hilft mir meine zufriedene Familie. Alle sind im Gesundheitsbereich tätig, passen auf mich auf, mahnen bei Bedarf: Anke, jetzt ist es etwas viel.»

Wieder auf die Beine kommen

Das Leben verpasst uns allen gerade einen gewaltigen «Chlapf», wie ihn die Menschen in Nottwil erleben. Das Impfen kommt nicht voran, wir steuern auf eine dritte Corona-Welle zu und müssen uns vielleicht bald mit strengeren Massnahmen rumschlagen. Schon wieder. Irgendwann, so hoffen wir, dürfen wir zurück ins alte Leben. Aber wie lang der Weg dorthin noch ist und ob wir das Ziel überhaupt erreichen, wissen wir nicht. Wir könnten jetzt verzweifeln, sicher. Wir können uns aber auch all die Menschen vor Augen halten, die ganz andere Katastrophen zu bewältigen haben. Wir sind ihnen in den Geschichten der Ärztin Anke Scheel-Sailer, des ehemaligen Pfarrers Martin Steiner und des ETH-Forschers Theo Wehner begegnet. Sie erzählen von Hoffnung. Und davon, wie wir uns wieder fangen.

Durch Nähe, durch Menschlichkeit. Durch die Fähigkeit, das Scheitern zu akzeptieren, sich vom Alten, von zu hoch gesteckten Zielen, von der Opferrolle zu lösen. Und durch die Bereitschaft, die Krise, die Ungewissheit auszuhalten. Eine Besserung, eine neue Lösung braucht Zeit. Das ist ein Anfang.

Vielleicht schaffen wir es dann dorthin, wo Martin Steiner heute steht. Er traf in Bern seine spätere Ehefrau, wurde Vater und baute sich eine neue Existenz als spiritueller Begleiter auf – bei der Dargebotenen Hand in Bern schult er das Personal darin, wie man Menschen durch Krisen begleitet.

Lebensfreude ist wieder möglich. Selbst für Menschen, die von einem Tag auf den anderen nicht mehr gehen können. Eine noch unveröffentlichte Studie aus Nottwil zeigt: Psychisch sind die Menschen nach der Reha ähnlich zufrieden oder manchmal sogar zufriedener als die Durchschnittsbevölkerung.

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