Stressforscherin Ulrike Ehlert über die Bewältigung von Krisenzeiten
«Es braucht jetzt viel Gelassenheit»

Was hilft uns, in Krisenzeiten cool zu bleiben? Sich Situationen vor Augen zu führen, die man im Leben gemeistert hat, sagt Ulrike Ehlert (59), Psychologieprofessorin an der Universität Zürich. Oder der Gedanke an ein feines Gigot.
Publiziert: 24.03.2020 um 23:17 Uhr
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Aktualisiert: 01.04.2021 um 14:51 Uhr
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Ulrike Ehlert ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Zürich.
Foto: Frank Brüderli
Interview: Jonas Dreyfus

Frau Ehlert, Sie erforschen die Wirkung von Stress auf die Psyche. Was fällt Ihnen im Moment auf?
Ulrike Ehlert:
Dass viele Menschen schlecht mit der Unvorhersehbarkeit der Situation umgehen können, in die uns die Pandemie bringt. Dass sie in ihrer Freiheit eingeschränkt sind, stresst die meisten viel mehr als die körperliche Bedrohung durch das Virus.

Was raten Sie jemandem, der das Gefühl hat, die Nerven zu verlieren?
Das Beste aus seiner Situation zu machen – auch wenn das vielleicht banal klingt. Es braucht jetzt viel Gelassenheit.

Wie kann man Social Distancing etwas Positives abgewinnen?
Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu überlegen, was ich mit der Zeit, die ich im Kino oder im Ausgang verbringen würde, anderes anfangen kann als fernzusehen oder am Handy zu hängen. Ein Kollege hat mir erzählt, dass das Wollgeschäft seiner Frau kurz vor der Ausrufung der Notlage wahnsinnige Umsätze gemacht hat. Offenbar haben viele wieder angefangen zu lismen.

Sie auch?
Ich hatte bis jetzt genug damit zu tun, die Technik für Video-Vorlesungen einzurichten. Im Moment freue ich mich über das schöne Wetter vor meinem Fenster. Auf die Malediven reisen kann ich im Moment nicht. Dafür sehe ich von Uetikon, wo ich wohne, auf die verschneiten Glarner Alpen.

Fachfrau für Stressfragen

Professorin Ulrike Ehlert ist Leiterin der Klinischen Psychologie und Psychotherapie am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Verhaltensmedizin, Psychobiologie und stressabhängige Erkrankungen. Ehlert wuchs in Bayern auf, lebt in einer Partnerschaft und hat zwei erwachsene Kinder.

Professorin Ulrike Ehlert ist Leiterin der Klinischen Psychologie und Psychotherapie am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Verhaltensmedizin, Psychobiologie und stressabhängige Erkrankungen. Ehlert wuchs in Bayern auf, lebt in einer Partnerschaft und hat zwei erwachsene Kinder.

Nicht jeder wohnt mit Aussicht. Und Eltern, die im Homeoffice arbeiten und gleichzeitig ihre Kinder betreuen müssen, haben Mühe, Vorteile darin zu sehen.
Was sicher ist: Gleichberechtigung von Frau und Mann im Haushalt und bei der Kinderbetreuung muss jetzt mal wirklich gelebt werden. Ein anderer Vorteil könnte sein, dass die Familie mal wieder vollzählig vereint ist und nicht immer ein Kind fehlt, weil es beim Sport oder in der Musikstunde ist.

Ein Pessimist würde lachen ob so viel Optimismus.
Immer vom Schlimmsten auszugehen, hat nichts mit Resilienz zu tun. Jetzt kann jeder mal herausfinden, wie widerstandsfähig er in Krisenzeiten ist. Auch das ist eine Chance.

Resilienz bezeichnet die psychische Gesundheit unter widrigen Umständen. Was hat Gelassenheit damit zu tun?
Wer gelassen ist, ist hat meistens eine hohe Resilienz. Radikale Akzeptanz einer Situation gehört dazu. Etwas so zu nehmen, wie es ist, ohne gross herumzumeckern. Wer existenziell bedroht ist, selbständig, ein Geschäft hat, das jetzt schliessen musste, dem hilft Gelassenheit natürlich nicht. Er muss über andere Resilienzmerkmale verfügen.

Welche?
Selbstwirksamkeit ist wichtig. Dass man daran glaubt, eine äusserst schwierige Situation beeinflussen zu können. Viele Restaurantbesitzer bieten jetzt plötzlich Lieferservice an. Wer sich nicht als selbstwirksam betrachtet, kommt gar nicht auf solche Ideen und glaubt erst recht nicht, mit ihnen Erfolg zu haben.

Jetzt wäre ein guter Moment, um religiös zu werden.
Spiritualität ist eine sehr positive Eigenschaft in Belastungssituationen. Es heisst aber, dass ich mir Unterstützung von aussen respektive von oben erhoffe. Selbstwirksamkeit ist genau das Gegenteil.

Was sagt es über die Resilienz einer Person aus, wenn sie tonnenweise WC-Papier hamstert, weil andere es auch tun?
Es zeugt von wenig Selbstkontrollfähigkeit. Eine wichtige Eigenschaft im Umgang mit Krisen ist, dass ich nicht einfach wie ein Lemming allen anderen hinterherrenne, sondern erst mal mit gesundem Menschenverstand überlege, in welcher Situation ich mich befinde. Inzwischen sollten alle begriffen haben, dass leere Regale wieder gefüllt werden.

Homeoffice hat seine Tücken. Im schlimmsten Fall ist der Chef genervt, weil ihn ständig jemand anruft, die Mitarbeiter, weil sie ihn schlecht erreichen. Kurze Absprachen an der Kaffeemaschine sind nicht mehr möglich. Und wenn dann noch die Technik spinnt …
Es ist völlig normal, wenn man im Moment Gereiztheit verspürt. Neben Schlafstörungen ist es das häufigste Anzeichen von Stress. Es braucht jetzt viel gegenseitiges Verständnis. Die Mitarbeiter vergessen gerne, dass auch die Vorgesetzten gestresst sind. Für sie ist die Situation ja auch neu.

Manche Mitarbeiter wollen nicht allzu gelassen wirken. Der Chef könnte denken, dass sie eine ruhige Kugel schieben.
Jetzt sind wir wieder bei der Selbstwirksamkeit. Diese Mitarbeiter könnten ja auch glauben, dass der Chef ihre Gelassenheit bemerkt und denkt: Den nehme ich mir als Vorbild.

Psychologen sagen, dass neurotische Menschen all ihre unbewussten Ängste jetzt voll auf das Coronavirus projizieren. Ist das gut oder schlecht?
Eine Angststörung ist ein grosses Leid. Wer an einer leidet, überlegt sich, was jetzt alles Drastisches passieren könnte. Dass der Vermieter das Haus verkaufen muss, in dem man lebt, man von einem Tag auf den anderen auf der Strasse landet. Solche Sachen.

Klingt ungemütlich.
Wir könnten uns hier gemeinsam ein irrwitziges Szenario ausdenken, und ich schwöre Ihnen: Nach zehn Minuten hätten wir auch Angst. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns nicht allzu viel ausmalen.

Sie befassen sich als Psychologin mit der hedonistischen Gefühlsregulation. Was versteht man darunter?
Menschen, die ihre Emotionen hedonistisch regulieren, können sich positive Gefühle lange erhalten und aus negativen Gefühlslagen schnell wieder hinausfinden. In Krisensituationen haben sie es leichter.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Es gibt Leute, die ein schönes Dinner ausklingen lassen, in dem sie an das feine Gigot denken, das sie gerade gegessen haben. Andere denken: Oh Gott, jetzt muss ich den ganzen Abwasch machen und die Küche aufräumen.

Was hilft sonst noch in Krisensituationen?
Sich vor Augen zu halten, welche Krisen man im Leben bereits gemeistert hat. Yoga und Achtsamkeitsübungen kann ich auch empfehlen. Und ein gesunder Nachtschlaf ist wichtig. Selbst ein Porsche kann nicht endlos fahren. Irgendwann muss er getankt werden, braucht einen Ölwechsel.

Was passiert eigentlich im Körper, wenn wir gestresst sind?
Stresshormone werden ausgeschüttet, der Blutdruck steigt, das sympathische Nervensystem wird stärker aktiviert, wir beginnen schnell und flach zu atmen. Wer regelmässig Atemübungen macht, kann sich in so einer Situation dazu anhalten, langsam und tief zu atmen. Das gaukelt dem Körper quasi vor, dass alles okay ist. Er beruhigt sich wieder.

Normalerweise frage ich Interviewpartner, ob sie in der nächsten Zeit erreichbar sind, falls ich noch etwas von ihnen wissen muss. Sie fahren nicht gleich in die Ferien?
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