Frau Bundespräsidentin, morgen beginnen in Bern die Sommerferien. Sie hätten sich wohl einen anderen Start in die Sommerpause gewünscht ...
Simonetta Sommaruga: Ja, natürlich. Aber jetzt geht es nicht um Wünsche, sondern darum, die richtige Balance zwischen Vorsicht und Lockerheit zu finden. Das hat der Bundesrat gemacht mit den Entscheiden zur Maskenpflicht und der Quarantäne für Reisende aus Risikogebieten.
Macht denn der Bundesrat jetzt tatsächlich Ferien?
Wir machen nur Ferien, wenn es die Situation zulässt. Ich werde selbstverständlich mit meinen Kolleginnen und Kollegen vom Bundesrat sowie den Kantonen weiterhin laufend in Kontakt sein. Aber ich hoffe, dass nach den anstrengenden Monaten ein paar Tage Pause möglich sind.
Über längere Zeit wurden extrem wenige Ansteckungen gemeldet, nun schiessen die Fallzahlen in die Höhe. Sind Sie darüber erschrocken?
Der Anstieg zeigt, dass die Balance noch nicht richtig stimmt. In der aktuellen Situation haben wir viele Freiheiten, aber das Virus ist immer noch da. Darum hat der Bundesrat erneut gehandelt. Wir müssen vorsichtig bleiben.
Virologen sagen, die Schweiz sei derzeit auf «keinem guten Weg». Was ist falsch gelaufen?
Ich bin keine Virologin. Als Bundespräsidentin habe ich von Anfang an versucht, einen guten Mittelweg zu finden. Zu Beginn der Pandemie gab es jene, die eine Ausgangssperre wollten; andere hätten das schwedische Modell bevorzugt. Für mich war es wichtig, den Schutz der Bevölkerung ins Zentrum zu stellen und zugleich der Wirtschaft zu helfen. Und dass wir mit Augenmass durch diese Krise steuern, lernfähig sind und offen für Anpassungen. Ich habe den Eindruck, seit Beginn der Krise habe die Schweiz alles in allem vieles richtig gemacht.
Sie geben sich selber also gute Noten?
Ich sage nicht, der Bundesrat habe keine Fehler gemacht. Gewisse Entscheide wie die Maskenpflicht hätte man vielleicht früher fällen können. Aber wir wollten sehen, wie sich die Situation entwickelt – und haben jetzt eingegriffen, wo es nötig wurde.
Wissenschaftler kritisierten vor zwei Wochen, die Lockerungen kämen zu schnell. Haben Sie mit der Aufhebung fast sämtlicher Einschränkungen nicht die falsche Botschaft gesendet?
Viele Regeln gelten immer noch, Grossveranstaltungen etwa bleiben verboten. Und auch die Schutzkonzepte für Läden oder für Veranstaltungen haben weiterhin Bestand. Sollten diese missachtet werden, müssen die Kantone eingreifen. Wir haben zwar gelockert – das heisst aber nicht, dass jetzt jeder machen kann, was er will. Die Vorsichtsmassnahmen gelten weiterhin, ergänzt mit Maskenpflicht und Quarantäne.
Sowohl die Maskenpflicht im ÖV als auch eine Quarantäne hatte die wissenschaftliche Taskforce schon vor Wochen empfohlen. Warum hat der Bundesrat deren Rat bisher ignoriert?
Bei all diesen Massnahmen stellt sich immer die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt. Die einen wünschten sich eine Maskenpflicht schon lange; andere finden, sie komme viel zu früh. Mir ist es wichtig, dass wir die Bevölkerung mitnehmen können. So wie jetzt mit der Maskenpflicht: Wenn die Fallzahlen steigen und zugleich wieder mehr Menschen Zug und Bus fahren, schützt man mit der Maske sich selber und seine Mitmenschen.
Umgekehrt ist es ja so, dass über Ansteckungen im ÖV nichts bekannt ist. Ist es nicht seltsam: Da kommt es zu Ansteckungen in Clubs, und Sie verordnen Masken im Zug?
Da müssen wir unterscheiden. Weil viele Leute pendeln, brauchen wir im öffentlichen Verkehr schweizweit die gleichen Regeln. Bei den Clubs können die Kantone vor Ort selber eingreifen. Sie können also auch Clubs schliessen, wenn nötig, und gezielt gegen lokale Virenherde vorgehen. Bundesrat und Bevölkerung erwarten von den Kantonen, dass sie durchgreifen.
Viele Kantone sind auf eine zweite Welle aber nicht vorbereitet.
So eine Gesundheitskrise hatten wir seit Jahrzehnten nicht mehr, das hat viele überrascht. Die Herausforderungen sind derzeit zudem sehr unterschiedlich. Wir haben Regionen, die keine Fälle haben, in anderen Regionen steigen die Zahlen. Und nun greifen verschiedene Kantone ja durch mit strengeren Massnahmen etwa für Clubs und Läden. Klar ist, wir lassen die Kantonen nicht alleine. Denn: Wir sind ein Land, wir sind eine Schweiz.
Die Meinungen der einzelnen Bundesräte gingen auch während der Corona-Krise in die unterschiedlichsten Richtungen – vom Totallockdown bis zur Sofortöffnung. Wie halten Sie als Bundespräsidentin das Gremium in solchen Momenten zusammen?
Mir war wichtig, dass trotz des enormen Zeitdrucks jeder seine Meinung einbringen kann. Natürlich gab es auch Spannungen, und wir führten harte Diskussionen. Es ging ja auch um sehr viel. Aber am Schluss suchen wir immer Lösungen, in der sich alle ein Stück weit abgebildet sehen. Eine kleine Kaffeepause oder ein bilaterales Gespräch auf der Terrasse können da Wunder wirken.
Offenbar gab es Momente, während derer Sie Ihren Bundesratskollegen gesagt haben: Wir verlassen dieses Zimmer nicht, bevor wir uns geeinigt haben.
(Lacht) Wir waren nun einmal in einer Krisensituation. Da kann man nicht einfach sagen, wir schauen nächste Woche weiter. Darum gab es durchaus einmal Momente, in denen ich zu etwas ungewöhnlicheren Mitteln greifen musste.
Wie haben Sie die denkwürdigen Tage vom 13. bis 16. März erlebt, als der Bundesrat den Lockdown beschloss?
Das ganze Wochenende war sehr speziell. Wir trafen damals am Freitag erste Restriktionen, etwa die Beschränkung der Anzahl Personen in den Restaurants. Am Samstag ging ich auf den Markt in Bern und musste feststellen, dass die Leute sich sehr unvorsichtig verhielten – keine Abstände, keine Hygienemassnahmen, nichts. Da wurde mir klar: Jetzt muss ein Ruck durchs Land. Der Bundesrat hat sich am Sonntagabend dann zu einer weiteren Sitzung getroffen. Uns wurde bewusst, dass wir weitreichende Entscheide fällen müssen. Uns allen fiel das sehr, sehr schwer; aber es gab aus unserer Sicht keine anderen Lösungen.
Am Montagabend folgte dann der Lockdown.
Am Vormittag wurden die Unterlagen für den Entscheid fertiggestellt, dann folgte die Sitzung, an der wir die nötigen Massnahmen beschlossen. Unsere Verordnungen waren ein Schock für die Bevölkerung, aber auch für die Wirtschaft. Da gab es Läden, die am nächsten Tag ihre Türen schliessen mussten. Oder Restaurants, die trotz vollen Kühlschranks keine Gäste mehr empfangen durften. Uns war deshalb klar, dass die Wirtschaft jetzt Unterstützung braucht.
Nebst diesem Wochenende: Welcher Moment ist Ihnen in Erinnerung geblieben?
Es gab da diesen Donnerstagabend im April, als ich zu Fuss nach Hause ging. Es muss etwa 20 Uhr gewesen sein, da sind sonst viele Leute unterwegs, weil in der Berner Altstadt dann normalerweise Abendverkauf ist. Diesmal aber waren die Strassen leer gefegt. Keine Menschenseele war unterwegs. Auf meinem ganzen Nachhauseweg bin ich ausser zwei Polizisten niemandem begegnet. Das war schon etwas unheimlich. Mir war klar: Das lag an den drastischen Einschränkungen. Ich bin sehr froh, haben wir das nun hinter uns. Niemand möchte das noch einmal erleben. Deshalb ist es so wichtig, dass wir jetzt alle vorsichtig sind.
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