Dick eingepackt stehen zwei Teenager mit ihrem Vater in der Basler Bahnhofshalle. Ihre Mutter kommt gerade die Rolltreppe herunter. Sie winkt. Es ist Cate Riley (52), die trotz eisigen Temperaturen strahlend durch die Halle marschiert.
Es muss ein kleiner Temperaturschock sein für die Familie, die direkt aus dem australischen Sommer kommt. 17'000 Kilometer Flugreise hat sie hinter sich. «Wir mussten die Jacken und Schuhe neu kaufen, so etwas brauchen wir zu Hause nie», sagt Riley.
Riley ist Australierin, in der Schweiz liegen jedoch ihre Wurzeln. Sie begibt sich mit dieser Europa-Reise auf die Spuren ihrer Eltern. Gleichzeitig ist es für sie aber auch die Mission «Schweizer Bürgerrecht». Denn die 52-Jährige will werden, was sie streng genommen seit Geburt schon ist: Schweizerin. Doch ganz so einfach ist dieses Unterfangen nicht.
Behörden drängten ledige Frauen dazu, ihre Babys zur Adoption freizugeben
Riley, ihr Mann Rob und die beiden Kinder Ginny und Oscar besteigen in Basel den Zug nach Delsberg, der Hauptstadt des Kantons Jura. Es ist der Heimatkanton von Rileys Vater. «Hier hat er in seinen Jugendjahren viel Zeit verbracht», sagt sie.
Riley wurde adoptiert. Zur Welt kam sie am 5. September 1970 in Sydney mit dem Namen Margrith. Zu einer Zeit, als sich Adoptionen in Australien in ihrer Blütezeit befanden – 10'000 waren es 1970. Behörden drängten ledige Frauen damals dazu, ihre Babys zur Adoption freizugeben. Die Gesellschaft sprach ihnen die Fähigkeit ab, allein für ihr Kind zu sorgen.
Der leiblichen Mutter, als Schweizerin in Australien auf sich allein gestellt, blieb damals also nichts anders übrig, als ihre Tochter – das Resultat einer kurzen Beziehung – abzugeben. «Von diesen Müttern erwartete man damals, ihr Kind zu vergessen und weiterzumachen, als wäre nie etwas passiert», sagt Riley.
Zu wem passt das rothaarige Baby?
Im Alter von einem Monat kam Riley zu ihren Adoptiveltern, die in der Agglomeration von Sydney lebten und sie auf den englischen Namen Catherine Nicole tauften. «Ich blieb einen ganzen Monat im Spital, bis Eltern gefunden wurden, die zu einem rothaarigen Baby passten», erzählt sie. Riley wuchs mit einem neun Jahre älteren Bruder auf, dem leiblichen Sohn ihrer Adoptiveltern.
Sie ging mit Kindern in die Schule, die wie sie adoptiert waren. «Gesprochen wurde nicht darüber, aber es hat uns verbunden.» Sie wurde in der Schule deswegen aber auch gehänselt.
Trotzdem hatte sie eine gute Kindheit. Jedoch liess sie der Gedanke nie los, woher sie stammt. «Mir fehlte eine selbstverständliche, natürliche Nähe zwischen mir und meiner Adoptivfamilie», sagt Riley. Sie sehnte sich nach einer tieferen Verbindung.
«Dass ich Schweizerin bin, kam völlig unerwartet»
Gleichzeitig war da – und ist bis heute – aber auch der innere Konflikt, loyal gegenüber ihren Adoptiveltern zu bleiben. Sie wollte sie nicht verletzen mit ihrer Neugier. Diese wiederum wurde aber immer wieder geweckt. Etwa mit Geburtstagsgeschenken von Verwandten, wie zum Beispiel eine Kuckucksuhr.
Es waren Gegenstände, die aus Europa stammten. Wie Riley selbst. Denn das war nie ein Geheimnis: Ihre leiblichen Eltern stammten nicht aus Australien.
Auch wenn Riley damals mehr hätte wissen wollen, in Australien konnte man bis 1991 keine Adoptionsakten einsehen. Es war die Ära der geheim gehaltenen Adoptionen. Anfang Neunziger änderte dieses Gesetz, und mit 21 Jahren erhielt sie endlich Einsicht in ihre Unterlagen. «Dass ich Schweizerin bin, kam völlig unerwartet», sagt Riley heute.
«Ich suchte in Telefonbüchern, in Bibliotheken und bei den Behörden»
Das alles passierte in einer Zeit, bevor es möglich war, sich mit ein, zwei Klicks im Internet etwa über Land und Leute zu informieren. So kontaktierte Riley als Erstes das Swiss National Tourist Office, um sich über das Alpenland schlau zu machen. «Ich wusste damals nicht einmal, wo die Schweiz überhaupt liegt.»
Ihre leibliche Mutter zu finden, wurde für Riley zur Odyssee. «Ich suchte in Telefonbüchern, in Bibliotheken und bei den Behörden», erzählt sie. Doch niemand in Australien hiess so wie ihre Mutter. «Ich habe ein paar Mal die Hoffnung aufgegeben.»
Eines Tages tauchte bei Rileys Recherchen in Australien eine Frau auf, die den gleichen Nachnamen trug wie ihre leibliche Mutter. «Ich schrieb ihr einen Brief und fragte, ob sie meine Mutter kennt.» Es stellte sich heraus, dass die kontaktierte Frau die Zwillingsschwester ihrer Mutter war. «Meine Tante gab den Brief an meine Mutter weiter.»
Mutter durfte nicht nach ihr suchen
Nach fünf Jahren auf der Suche fand Riley ihre leibliche Mutter schliesslich. Es folgte ein wochenlanger Briefkontakt, bis die damals 25-Jährige nach Brisbane flog, wo ihre Mutter mit ihren zwei Töchtern und ihrem australischen Ehemann lebte.
«Meine Mutter war sehr glücklich und dankbar, als ich zurück in ihr Leben kam», sagt Riley. Margie, so nennt Riley ihre leibliche Mutter, habe immer an sie gedacht, jedoch seien ihr die Hände gebunden gewesen. Es war ihr nicht erlaubt, sie zu suchen.
Damals erfuhr die junge Frau, dass ihr Vater, der schon aus Australien abgereist war, bevor Riley zur Welt kam, ebenfalls Schweizer war. Die neue Familie nahm sie sofort auf. «Alle kamen nach Australien, um mich kennenzulernen.» Denn auch ihr Vater habe sie nicht vergessen. Es dauerte jedoch einige Jahre, bis er auch seine «zweite» Familie einweihte und ihnen über Rileys Existenz erzählte.
«Plötzlich war klar, woher ich das Musische und Künstlerische habe»
Auch für Rileys Adoptivmutter sei es schwierig gewesen. «Sie hatte Angst, mich an meine leibliche Mutter zu verlieren.»
Unterdessen sitzen Riley und ihre Familie in einem Café in Delsberg. Die 52-Jährige hat am Fenster Platz genommen und skizziert die schneebedeckten Dächer der jurassischen Hauptstadt.
Aufgewachsen mit Adoptiveltern, die so gar nichts mit Kunst am Hut hatten, musste Riley darum kämpfen, Grafik-Design studieren zu dürfen. Das Kennenlernen ihrer leiblichen Eltern bestärkte sie in ihrer Berufswahl. Vater und Mutter waren Bauzeichner, der Grossvater Künstler. «Plötzlich war klar, woher ich das Musische und Künstlerische habe.»
Auch ihr steht der Schweizer Pass zu
Die Reise geht weiter nach Courfaivre JU, wo Rileys Vater aufgewachsen ist. Sie möchte das Haus finden, wo er lebte. Doch vergebens pilgert die Familie durch das verschneite Dörfchen.
Durchfroren besteigt die Familie den Zug nach St. Ursanne JU, bevor es wieder zurück nach Basel geht.
Auch wenn sie das Haus nicht gefunden haben – die Bemühungen um das Schweizer Bürgerrecht sollen nicht vergebens sein. Zwei Tage nach dem Ausflug in den Jura sitzt Riley mit ihrem Mann Rob in einer Zürcher Anwaltskanzlei.
Es war an einem der zahlreichen Familientreffen ihrer Schweizer Familie, als Rileys Cousin meinte: «Deine Halbschwestern, die nur zur Hälfte Schweizerinnen sind, haben einen Schweizer Pass, auch dir steht dieser doch zu.» Dies löste in Riley etwas aus, das sie nun seit bald zwei Jahrzehnten beschäftigt.
«Zuerst dachte ich, okay, dann ist es halt nicht möglich»
Sie recherchierte, fragte beim Konsulat und auf Schweizer Gemeinden nach. Entweder wurde sie weiterverwiesen oder erhielt Absagen. «Zuerst dachte ich, okay, dann ist es halt nicht möglich.» Doch im Lauf der Jahre verspürte sie eine tiefe Ungerechtigkeit. «Ich bin doch Schweizerin, mit der Adoption wurde mir ja nicht das Blut ausgetauscht.»
«Cate Rileys Fall ist komplex», sagt Marad Widmer, Rileys Anwalt. Der Jurist sieht zwar eine Chance, eine Erfolgsgarantie kann Widmer aber nicht geben.
Mit 25 erlischt das Schweizer Bürgerrecht
Rechtlich ist es so, dass ein Kind, das von einem Schweizer Elternteil im Ausland geboren wurde und eine andere Nationalität hat, im Alter von 25 Jahren automatisch den schweizerischen Pass verliert.
Es sei denn, es hat sich bei einer Schweizer Behörde gemeldet oder schriftlich erklärt, dass es die Schweizer Staatsangehörigkeit behalten will. Verwirkt das Schweizer Bürgerrecht, so verwirkt es auch für die Kinder.
Ein anderer möglicher Weg wäre, die Adoption aufzuheben. Doch das will Riley nicht, zu gross wäre der familiäre Schaden, den sie damit anrichten würde.
Doch genau diese Adoption hat die rechtliche Verbindung zur Schweiz gekappt. Rileys Glück könnte sein, dass sie – wie vom alten Bürgerrecht verlangt – sich innerhalb eines Jahres beim Tourismusbüro gemeldet hat, nachdem sie erfahren hat, dass sie Schweizerin ist. Dieses war beim Schweizer Konsulat angegliedert.
Riley schöpft nun Hoffnung. Nach jahrelanger Recherche hat sie mit ihrem Anwalt jemanden gefunden, der sie auf ihrer Mission «Schweizer Bürgerrecht» unterstützt. Eine Mission, die ihr auch ein Stück Identität zurückgeben soll, die sie bei ihrer Adoption verloren hat.
Dieser Text erschien zuerst auf swissinfo.ch und wurde Blick zur Verfügung gestellt.