Frau Pescia, was suchen die Menschen, wenn sie in die Ferien verreisen?
Lena Pescia: Reisen ist etwas sehr Menschliches. Wir wollen Neues erleben. Die Komfortzone verlassen. Dem Alltag, dem Stress entfliehen. Ein Hobby ausleben, zu dem wir sonst nicht kommen.
Als Tourist will man in die einheimische Kultur eintauchen. Finden wir die Authentizität, nach der wir uns sehnen?
Das kommt auf die Art zu reisen an. Suchen Reisende den Austausch mit Einheimischen und tauchen in das Leben abseits der Tourismusströme ein, ist dies sicher möglich. Oft erlebt man jedoch eine touristische Version der Destination, beispielsweise die Aufführung traditioneller Tänze in Resorts für die Touristen.
Wie sieht eine typische Reisebiografie aus?
Tendenziell suchen Jüngere Neues, Freiheit, später stehen Geschäfts-, Familien- oder Paarreisen an, im Alter kommen barrierefreie Aspekte hinzu. Aber Achtung vor Klischees! Es ist besser von Interessensgruppen wie Bikern, Wanderern, Kulturinteressierten oder Abenteurern zu sprechen und die Angebote an ihre aktuellen Bedürfnisse anzupassen, beispielsweise bikende Jugendliche, bikende Familien, bikende Senioren.
Mir fällt aber auf: Ältere reisen eher an Orte, die sie schon kennen. Warum?
Wenn man nicht mehr so fit ist, gibt es auch Sicherheit zu wissen, wie die Infrastruktur aussieht. Es gibt aber auch immer mehr reisefreudige Rentnerinnen und Rentner, die auch im höheren Alter neue Destinationen entdecken wollen.
Sind Ferien eigentlich ein neueres Phänomen?
Gar nicht. Schon 1500 vor Christus fuhren die Ägypter zu den Pyramiden, weil sie sich diese anschauen wollten. Auch eine Art von Reiseführer gab es bereits vor rund 2000 Jahren. Und Wegweiser, die den Weg zur nächsten Unterkunft angaben.
Lena Pescia (41) wuchs in Freiburg im Breisgau (D) auf. Das Reisen gehöre zu ihrer DNA, sagt sie im Gespräch. Neue Kulturen entdecken, neue Sprachen lernen – das faszinierte sie früh. Sie studierte in Dortmund (D) und Cheltenham (Grossbritannien) Tourismus. An der Universität St. Gallen doktorierte sie zum Thema Inklusion von Mitarbeitenden mit Beeinträchtigungen in der Hotellerie. Seit 2020 ist sie an der Fachhochschule Graubünden Dozentin, wo sie auch forscht. Zudem ist sie dort stellvertretende Leiterin des Instituts für Tourismus und Freizeit (ITF). Lena Pescia lebt in Chur.
Lena Pescia (41) wuchs in Freiburg im Breisgau (D) auf. Das Reisen gehöre zu ihrer DNA, sagt sie im Gespräch. Neue Kulturen entdecken, neue Sprachen lernen – das faszinierte sie früh. Sie studierte in Dortmund (D) und Cheltenham (Grossbritannien) Tourismus. An der Universität St. Gallen doktorierte sie zum Thema Inklusion von Mitarbeitenden mit Beeinträchtigungen in der Hotellerie. Seit 2020 ist sie an der Fachhochschule Graubünden Dozentin, wo sie auch forscht. Zudem ist sie dort stellvertretende Leiterin des Instituts für Tourismus und Freizeit (ITF). Lena Pescia lebt in Chur.
Wie kam der Tourismus in die Schweiz?
Ab dem 18. Jahrhundert machte der europäische Adel Bildungsreisen durch Venedig, Rom, Paris und die Bergregionen der Schweiz. Die sogenannte Grand Tour. Vor allem die jungen Männer. Das gehörte zum guten Ton damals.
Dazu passt, dass Johann Wolfgang von Goethe nach einer Schweizreise Friedrich Schiller zu seiner Tell-Erzählung inspirierte. Das trug laut Historikern zur Beliebtheit der Schweizer Berge bei.
In Graubünden hat – so die Legende – der Hotelier Johannes Badrutt (1819–1889) nachgeholfen. Er habe 1864 mit britischen Sommergästen eine Wette abgeschlossen. Er lud sie ein, im Winter zu kommen, und versprach ihnen, sie würden bei Sonnenschein hemdsärmelig auf seiner Terrasse sitzen können. Liege er falsch, übernehme er die Reisekosten. So hat sich angeblich der Wintertourismus in St. Moritz etabliert.
Wie kamen die kleinen Leute in den Genuss?
Die Industrialisierung stiess das an. Die Eisenbahn kam auf, das Strassennetz wurde ausgebaut. Die Distanzen wurden immer kleiner. Zentral war später die Arbeiterbewegung. Zum ersten Mal hatten die Menschen bezahlte Ferien. Plötzlich hatten sie Zeit und Geld zum Reisen.
Und heute, wohin zieht es uns Schweizerinnen und Schweizer am meisten?
40 Prozent bleiben in der Schweiz, 60 Prozent fahren ins Ausland. Vor allem nach Italien, Frankreich und Deutschland.
Was hat sich zu früher verändert?
Die Leute sind heute immer individueller unterwegs. Sie wollen mehr selbst bestimmen.
Machen Sie ein Beispiel, bitte.
Auf der Lenzerheide gibt es zum Beispiel die Privà Alpine Lodge. Also Ferienwohnungen mit Küchen, die an ein Hotel angeschlossen sind. Dort kann man sich seine Ferien baukastenmässig zusammenstellen. Vielleicht hat man drei Tage lang Lust auf das Morgenbuffet des Resorts, vielleicht schaut man danach selbst.
Laut der jüngsten Prognose der ETH-Konjunkturforschungsstelle dürfen die Hoteliers mit einer wachsenden Nachfrage aus dem Ausland rechnen. Besonders die chinesischen Touristen kommen wieder zurück. Risiko oder Chance?
Das ist ganz klar eine grosse Chance. Einerseits wirtschaftlich, aber es ist auch eine Chance für wertvolle Begegnungen zwischen den Menschen.
Ich sage dazu nur: 2019 schafften an einem einzigen Mai-Tag 95 Reisecars 4000 chinesische Touristen in die Stadt Luzern.
Grosse Gruppen können herausfordernd sein. Nun kommen Gäste aus dem asiatischen Raum aber auch immer mehr als Individualtouristen. Diese können sich besser verteilen. Vor allem, wenn man nicht nur Hotspots wie die Holzbrücke in Luzern vermarktet, sondern auch bislang unbekanntere Sehenswürdigkeiten.
Instagram und Co. lassen die Massen beispielsweise nach Bali (Indonesien) strömen. Warum zieht es die Leute an Orte, wo schon so viele andere sind?
Es geht wohl um Selbstdarstellung. Man will den Daheimgebliebenen zeigen: Ich war auch an diesem hippen Ort. Gerade dort ist das Enttäuschungspotenzial extrem hoch.
Warum?
Die Fotos täuschen. Oft sieht es so aus, als wäre man allein dort. Auf dem Everest steht man vor dem Gipfel in der Warteschlange. Ein Klassiker ist auch die Blaue Lagune in Island, das milchig blaue Wasser sieht man immer wieder im Netz, dass der Ort total überrannt ist, nicht.
Wie konnte es so weit kommen, dass die Massen an Orten wie Barcelona, Venedig, Amsterdam zur Plage geworden sind?
Viele Faktoren spielen hinein und unterscheiden sich je nach Destination. Die Erreichbarkeit ist sicher ein Aspekt. Billig-Airlines haben das Reisen günstig gemacht und die Nachfrage angekurbelt. Sie haben auch neue Feriendestinationen erschlossen. Kreuzfahrtschiffe befördern Tausende Gäste in Hafenstädte. Sind aber nicht nachhaltig, weil diese Touristen nicht übernachten.
Und weiter?
Inseln wie die der Balearen, Kanaren, Malediven haben viel Infrastruktur aufgebaut. Übernachtungsmöglichkeiten für zigtausend Leute. Diese wollen genutzt werden. Es ist wahnsinnig schwierig, da zurückzubuchstabieren.
Halten Massnahmen gegen Overtourism die Leute wirklich ab?
Ich bin skeptisch. Venedig erhebt jetzt fünf Euro. Ich glaube nicht, dass sich jemand wegen fünf Euro abhalten lässt, das gibt man auch schnell mal für einen Kaffee aus.
Was kann man dann tun?
Man kann versuchen, die Leute über Preisanreize das ganze Jahr zu verteilen. Man kann auch schauen, dass man nicht nur die Hotspots bewirbt, sondern auch Orte im Umland. So würde auch dieses profitieren.
Die spanische Stadtburg Alhambra begrenzt die Zahl der Eintritte und verkauft Tickets mit vorbestimmten Eintrittszeiten. Was halten Sie davon?
Für einzelne Attraktionen wie die Alhambra kann das sehr sinnvoll sein und die Besucherströme lenken sowie entzerren. Für ganze Städte ist das schwierig. Wie will man da eine Grenze ziehen? Man kann um Venedig nicht einfach eine Mauer bauen und sagen: Wir lassen nur noch so und so viele Leute rein.
Das Mengenproblem bleibt.
Eine umfassende Lösung sehe ich kurzfristig nicht.
Der Druck ist hoch. In Mallorca und auf den Kanaren gehen die Bewohner auf die Strasse.
Diese Proteste zeigen aber, dass es den Einheimischen nicht per se um den Tourismus geht. Spätestens seit Corona haben alle gemerkt, wie abhängig sie vom Tourismus sind. Kein Tourismus ist auch keine Option.
Worum geht es den Einheimischen?
Um die eigenen Lebensbedingungen. Dass sie von ihrem Lohn leben, Wohnungen finden und bezahlen können. Das Problem haben wir auch im Engadin. Und es ist komplex. Da können die Touristiker wenig machen. Die Politik müsste regulatorisch eingreifen, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.
Hinzu kommt das Umweltproblem. Kann man noch guten Gewissens in die Ferien fliegen?
Der Tourismus verursacht insgesamt acht Prozent der weltweiten CO₂-Emissionen. Fünf Prozent entfallen auf den Transport. Das sind die Fakten. Es ist schade, dass es in der Debatte immer nur darum geht, wie negativ Tourismus ist. Die Diskussion müsste sich darum drehen, wie technologischer Fortschritt schnell herbeigeführt werden kann, um die Transportmittel klimaneutral zu betreiben. Ich sehe das Reisen nicht als das Böse.
Sondern?
Es bringt Menschen zusammen. Wenn man mal in ein Land fährt und die Kultur miterlebt, versteht man es besser. Man kommt von den Klischees weg, die man im Kopf hat. Tourismus kann einen Beitrag zur Völkerverständigung leisten.
Mit Greta Thunberg und dem Klimastreik 2019 schien ein gesamtgesellschaftliches Umdenken greifbar. Warum jetzt nicht mehr?
War es das? Ich spekuliere jetzt mal. Der Höhepunkt der Klimabewegung und der Diskussion um Flugscham begann kurz vor der Pandemie. Während der Pandemie, als man sowieso nicht reisen konnte, war es dann vielleicht leichter zu sagen: Ich fliege nicht mehr. Für diese These spricht, dass wir jetzt fast wieder auf dem Reiseniveau von vor der Pandemie sind.
Ein Blick in die Zukunft des Tourismus: Was erwartet uns?
Man spricht auch im Tourismus immer mehr über die Arbeitsbedingungen. Vielleicht werden künftig Touristen ihre Destinationen danach auswählen, ob diese gut sind. Ein anderes Thema ist der Weltall-Tourismus. Der Hilton-Konzern plant, im Jahr 2027 auf einer privaten Raumfahrtstation ein Hotel zu eröffnen. In Zukunft kann sich das vielleicht auch der Mittelstand leisten. Aber wer weiss, ob Sie und ich das noch erleben.