Wäre mein Leben ein Spielfilm, würden sie die weiblichen Hauptrollen einnehmen: Wie zeigt man seiner Mutter und der ihren seine Dankbarkeit für die erhaltene Liebe? Vielleicht mit einem Gespräch.
Grosi und Mama, heute wäre Urgrosis Geburtstag. Was denkt sie wohl, falls sie uns vom Himmel aus skypen sieht?
Corinne Kündig Kössler: Dich würde sie wohl nicht mehr erkennen!
Marietta Kündig: Sie wäre begeistert über die Fortschritte in der Informatik und würde sofort mitmachen wollen! (Lacht.)
Vermisst ihr sie?
Marietta: Ich denke oft an sie, vor allem in ihrem Garten, den ich nun pflege. Dort rede ich mit ihr und weiss, dass sie gründlicher jäten würde. Ich konnte viel von ihr lernen: Liebenswürdigkeit, wie man mit Problemen umgeht. Sie war mein Vorbild.
Corinne: Ich habe nur schöne Erinnerungen an sie. Sie kochte feine Pastetli und hatte immer Kaugummis in einer Schublade. Wenn ich dort war, drückte sie mir immer einen in die Hand.
Ich bekam auch immer einen Kätschgi!
Corinne: Ausserdem hatte sie ein Solex-Töffli, das sie bis ins hohe Alter fuhr ...
Marietta: ... damit sauste sie ohne Helm durchs Dorf, nur weil sie ihren Chignon nicht ruinieren wollte! (Lacht.)
Wir feiern Weihnachten immer mit der Familie. Das fällt dieses Jahr wegen Covid aus – jetzt skypen wir, statt uns zu treffen ...
Marietta: Ich werde euch vermissen, aber in Gedanken bei euch sein. Wir machen einfach das Beste daraus – zum Glück sehen wir uns dank Videotelefonie trotzdem!
Du wirst nächstes Jahr 80. Fühlst du dich alt?
Marietta: Jung sehe ich nicht mehr aus!
Wunderbar siehst du aus!
Marietta: Die Jahre haben körperlich Spuren hinterlassen, aber im Geiste fühle ich mich noch jung.
Wie gelingt das?
Marietta: Das ist angeboren! (Lacht.) Nein, ich denke, so erleben es die meisten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich jemand wirklich wie 80 fühlt. Man wird nicht ein anderer Mensch. Nur ändert man durch die Erfahrungen vielleicht seine Meinungen.
Was sind die wichtigsten Lektionen, die ihr in eurem Leben gelernt habt?
Marietta: Positives Handeln und Denken sind zentral. Als du auf die Welt gekommen bist, war Corinne erst 18. Aber wir freuten uns auf dich, und alles hat sich zum Guten gewandt!
Corinne: Dass man gewisse Sachen nicht beeinflussen kann. Ich glaube an das Schicksal. Statt mich zu nerven, wenn etwas nicht klappt, denke ich mir, es hätte einfach nicht sein sollen. Und vorwärtsschauen. Es gibt immer mehrere Lösungswege.
Marietta Kündig (79) ist Mutter von zwei erwachsenen Töchtern und sechsfache Grossmutter. Sie arbeitete als Direktionsassistentin und Hausfrau, ist seit über 50 Jahren verheiratet und lebt im Kanton Solothurn. Sie reist, wandert und jasst gerne. SonntagsBlick-Redaktorin Camille Kündig (31) ist Marietta Kündigs älteste Enkelin.
Marietta Kündig (79) ist Mutter von zwei erwachsenen Töchtern und sechsfache Grossmutter. Sie arbeitete als Direktionsassistentin und Hausfrau, ist seit über 50 Jahren verheiratet und lebt im Kanton Solothurn. Sie reist, wandert und jasst gerne. SonntagsBlick-Redaktorin Camille Kündig (31) ist Marietta Kündigs älteste Enkelin.
Was ist eure schönste Erinnerung?
Corinne: Die Geburt – und Zeugung – meiner Kinder! (Zwinkert.)
Das kommt so in die Zeitung ...
Corinne: Nein, im Ernst. Das Glücksgefühl nach der Geburt ist überwältigend.
Marietta: Die Geburt von Corinne und ihrer Schwester, genauso wie diejenige der Enkelkinder.
Ich fürchte mich vor dem Gebären.
Corinne: Der Schmerz ist vergessen, sobald du das Kind in den Armen hältst.
Marietta: Wenn ich daran denke, wie du, Camille, jeweils gejammert hast beim Zahnarzt! Das wird mir ein Drama geben. (Lacht.)
Mama, meinst du, wir haben Grosis Humor geerbt?
Corinne: Wir haben wohl alle denselben Sinn für Ironie.
Grosi, erkennst du dich manchmal in uns wieder?
Marietta: In Stresssituationen werdet ihr leider oft nervös und gereizt wie ich. Dafür sind wir tolerant, unser Haus steht immer allen offen, und langweilig wird es mit uns nie!
Stimmt! Wie war ich als Kind?
Corinne: Du warst eine Leseratte. Eher schüchtern, sehr ordentlich ...
Marietta: Ein Sonnenschein! Und du hast fein säuberlich Hunderte von Legos in Reihen geordnet. Recht pingelig. (Lacht.)
Corinne: Gleichzeitig hast du gerne Shows mit deinen Cousins vorgeführt. Und schüchtern bist du heute nicht mehr.
Marietta: Am Wochenende hast du zum Frühstück liebend gerne Schwarzwälder- torte gegessen!
Gutes Stichwort: Was würdet ihr heute bei der Erziehung anders machen?
Marietta: Ich habe immer mit Liebe versucht, Grenzen aufzuzeigen, und würde es wieder so tun. Bei uns wurde es nie laut.
Corinne: So habe ich das auch mit dir und deinen Geschwistern versucht. Vielleicht waren wir tendenziell zu wenig streng, und ich habe euch wohl etwas zu viele Steine aus dem Weg geräumt. Wie mit Enttäuschungen umzugehen ist, musstet ihr später lernen.
Marietta: Wir hatten euch einfach zu gerne! (Lacht.)
Du hast immer gesagt: Wie du mir, so ich dir. Sei lieb zu deinen Mitmenschen.
Corinne: Das ist mir sehr wichtig. Das hat mir Mama mit auf den Weg gegeben.
Corinne Kündig Kössler (49) ist verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern. Sie führt eine eigene Design-Firma und arbeitet in einem kantonalen Tourismusbüro. Sie tüftelt, reist und schwimmt gerne. SonntagsBlick-Redaktorin Camille Kündig (31) ist Corinne Kündig Kösslers älteste Tochter.
Corinne Kündig Kössler (49) ist verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern. Sie führt eine eigene Design-Firma und arbeitet in einem kantonalen Tourismusbüro. Sie tüftelt, reist und schwimmt gerne. SonntagsBlick-Redaktorin Camille Kündig (31) ist Corinne Kündig Kösslers älteste Tochter.
Du wurdest mit 18 Mutter. Wie fühltest du dich?
Corinne: Es war ungeplant, aber ich habe mich gefreut. Angst, es den Eltern zu erzählen, hatte ich schon. Aber sie haben super reagiert.
Marietta: Zuerst haben wir uns Sorgen um dich gemacht, Corinne. Uns war wichtig, dass du deine Ausbildung abschliesst. Ich tauschte dann für einige Jahre den Beruf gegen das Babysitten.
Corinne: Alle wollten dich sehen, Camille! Ich bekam über 200 Besuche im Spital.
Marietta: Du warst ja auch so ein Herziges!
Hoffentlich immer noch ...
Marietta: Böse waren wir dir der frühen Schwangerschaft wegen jedenfalls nie.
Corinne: Ein grosses Merci für eure Unterstützung!
Und das in einer recht christlichen Familie …
Marietta: Meinst du, wegen des Sex vor der Ehe? Deswegen konnte ich ihr doch nicht böse sein. Wir hatten zu meiner Zeit einfach mehr Glück. (Zwinkert.)
Mama, ich habe nur schöne Kindheitserinnerungen. Wie schafft man es, mit zwanzig so eine gute Mutter zu sein?
Corinne: Ich gab einfach mein Bestes. Als junge Mutter ist man unkomplizierter. Ich habe dich überall hin mitgenommen, zum Beispiel zum Campen mit Kollegen in Yverdon. Weisst du noch?
Ja! Das war lustig.
Corinne: Und ich war zwar alleinerziehend, aber dein Vater hat sich ja regelmässig um dich gekümmert. Und für die Adventszeit hat er dir immer ein Prinzessinnenschloss gebastelt mit Geschenken hinter jeder Tür!
Ich weiss. So härzig.
Marietta: Rührend fand ich, dass auch seine Kollegen dich oft gehütet haben. Ich habe ihnen dann Kaffee und Kuchen angeboten.
Corinne: Später war natürlich auch dein Stiefpapi da für dich. Du hast heute ja eigentlich zwei Väter. Und deine andere Oma hat auch viel mit dir unternommen.
Marietta: Corinne hat in ihrem jungen Alter alles immer richtig gemacht. Einmal hast du gesagt: «Meine Klassengspänli haben alle alte Mütter! Bin ich froh, habe ich so ein junges Mami!»
Hattest du nie das Gefühl, etwas zu verpassen? Das Reisen zum Beispiel?
Corinne: Nein, ich bin ja viel mit dir unterwegs gewesen – zum Beispiel per Last-minute-Angebot nach Gran Canaria. Ich war zwar nicht überall auf der Welt, aber man muss ja nicht überall hingereist sein. Und dank unseres Umfelds konnte ich einmal pro Woche in den Ausgang.
Marietta: Es war uns wichtig, dass du trotz Kind deine Jugend geniessen konntest.
Du hast als Jugendliche gegen das AKW Mühleberg demonstriert. Wärst du heute an den Klimastreiks vorne mit dabei?
Corinne: Wäre ich jetzt jung, bestimmt! Ich finde es nach wie vor wichtig, dass gerade junge Menschen für ihre Rechte kämpfen – die Zukunft gehört ihnen.
Wichtig ist dir auch das Tüfteln. Du designst gerne neue Objekte. Wie viele waren es schon?
Corinne: 999. Beim Tüfteln kann ich abschalten. Am liebsten kreiere ich aus etwas Bestehendem Neues: Taschen aus Bettflaschen, Möbel aus Pneus oder kürzlich die Wandalen – wandelbare Schuhe, die beliebig neu gestaltet werden können.
Kreativ warst du auch bei den Gutenachtsprüchen …
Corinne: «Pfuus guet u tröim süess vo Surchchrut u Söifüess.» Super für eine jetzige Vegetarierin! (Lacht.)
Was würdet ihr in eurem Leben anders machen, wenn ihr nochmals von vorne beginnen könntet?
Corinne: Ich würde eine Schule für Kunst besuchen anstelle der Wirtschaftsmittelschule. Mich von Anfang an auf meine Stärken konzentrieren.
Marietta: Ich würde gelassener an Probleme herantreten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich meist Lösungen finden. Aber ich möchte nicht nochmals von vorne anfangen. Es hätte schlimmer kommen können. (Lacht.)
Viele Senioren fühlen sich seit Covid einsam. Wie ist das bei dir und Grospapi?
Corinne: Wir wohnen in einer schönen Wandergegend, spielen gerne Karten. Unsere Kollegen treffen wir weiterhin, nur weniger oft. Dazu kommen Arzttermine. Langweilig wird es uns nie.
Deine Agenda ist voll wie die eines Bundesrats. Den Termin für dieses Gespräch mussten wir ausverhandeln. Wie bleibt man so aktiv wie du?
Marietta: Dranbleiben, sich interessieren und engagieren.
Du hast sogar Instagram. Wie kommts?
Marietta: Pures Stalking! Mich nimmt es wunder, was ihr Enkel so macht. (Lacht.)
Manchmal postest du selbst Fotos ...
Marietta: Stimmt. Ich teile gerne, wenn mir etwas Freude macht. Wenn zum Beispiel im Garten schöne Blumen blühen.
Wir alle – Geschwister, Cousins – wohnen quer über die ganze Schweiz verstreut: Macht euch das Mühe?
Corinne: Es wäre einfacher, würden wir näher beieinander leben. Dafür ist es umso schöner, wenn wir uns sehen. Und wir haben ja auch so einen engen Zusammenhalt.
Marietta:Es hat auch Vorteile! Ich komme euch gerne in Estavayer, Bern und Zürich besuchen. Aber am liebsten hätte ich euch schon alle im Dorf um unser Haus herum!
Und jetzt die Frage: Was bedeutet Liebe für euch beide?
Corinne: Nächstenliebe, füreinander da zu sein, aber auch Lust und Leidenschaft ...
Marietta: Dem kann ich nur beipflichten!
Corinne: Was zählt, ist, Glück und Leid zu teilen und einander zu vertrauen.
Marietta: Sie ist Nahrung für die Seele. Wir brauchen beides: Liebe empfangen, Liebe weitergeben.