«Ich bin selbst erstaunt, dass ich schon über 80 bin»
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Grosi im Interview
«Ich bin selbst erstaunt, dass ich schon über 80 bin»

Im Generationen-Gespräch redet Redaktorin Dana Liechti mit ihrem Grosi Bethli Sollberger über einen Weihnachtswunsch, viele Erinnerungen und Hunderte Lismete.
Publiziert: 23.12.2020 um 11:41 Uhr
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Aktualisiert: 04.01.2021 um 20:09 Uhr
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Zu Weihnachten trifft Redaktorin Dana Liechti (26) ihr Grosi Bethli Sollberger (81) zum Gespräch.
Foto: Nathalie Taiana
Interview: Dana Liechti, Bilder: Nathalie Taiana

Tiefroten Früchtetee mit viel Zucker, weiche Umarmungen und warme Wollsocken. Alles Dinge, die ich mit meinem Grosi verbinde. Kein Wunder, besuchen wir Gross­kinder sie gerne – in dieser verrückten Zeit allerdings mit Maske. Umarmung gibt es keine.

Grosi, wie geht es dir?
Bethli Sollberger: Es geht mir gut! Sieht man das nicht? (Lacht.)

Doch! Aber wir machen uns Sorgen um dich. Es ist keine einfache Zeit.
Bis jetzt bin ich gut durch das Jahr gekommen. Ihr macht euch wirklich zu viele Sorgen um mich. Ich sage das immer wieder. Es nimmt mich niemand weg – und sonst bringen sie mich ­wieder zurück!

Aber wegen Corona ist die Situation in vielen ­Altersheimen dramatisch. Wie ist das bei euch?
Uns geht es gut. Es gab hier bisher keinen Fall, da haben sie gut geschaut.

Heuer ist alles anders. Auch das Güetsele fiel aus. Macht dich das traurig?
Schon ein bisschen. Wir ­hatten es immer so lustig. Ich erinnere mich noch gut, als ihr noch klein wart und Güetsi ausgestochen habt – überall war Teig und eure Gesichter voller Mehl. Das war so schön.

Weihnachten feiern wir auch nicht gemeinsam.
Nein, ich möchte danach nicht in Quarantäne gehen müssen. Und es wäre ja sowieso alles anders als sonst. Wir machen besser im Frühling mal etwas.

Wir haben schon letztes Jahr nicht richtig Weihnachten gefeiert, weil einer deiner Enkel – mein Cousin – schwer krank war, und weil es Ättä, deinem Mann, meinem Grossvater, nicht gut ging.
Ja, es war sehr viel aufs Mal. Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als unser Enkelsohn uns gesagt hat, dass er so krank ist. Ich dachte, jetzt fällt die Welt aus­einander. Er hat dann uns getröstet, nicht umgekehrt. Gott sei Dank ist es gut gekommen.

Während mein Cousin die Therapie gemacht hat, ist Ättä gestorben. Mir hilft der Gedanke, dass er seinem Enkel vielleicht noch die letzte Lebenskraft geschenkt hat.
Ich hab manchmal auch das Gefühl: Ättä wollte ihm geben, was er noch hatte.

Vermisst du Ättä?
Vor allem am Abend. Oder wenn ich ihm etwas erzählen möchte. Dann denke ich: Warum bist du schon gegangen? Aber ich glaube, es ist gut, wie es ist.

Er hätte sich wohl sehr aufgeregt über diesen Schlamassel mit Corona.
Ja, sicher. Er hätte geflucht! Vielleicht hätte er das alles auch nicht so gut ertragen. Es war wohl auch ein bisschen Schicksal, dass er vorher gehen durfte.

Was macht dir Mut, wenn du mal traurig bist?
Ihr! Ich denke an jedes ­meiner Kinder und Grosskinder. Das ist auch das ­Letzte, woran ich denke, bevor ich einschlafe.

Erkennst du dich manchmal in uns wieder?
Vielleicht in deiner Schwester, wenn sie alles auf einmal schaffen will oder ­etwas fahrig ist. So war ich auch als junge Frau, das hat sie nicht gestohlen – tut mir leid! (Lacht.)

Deine Kinder wohnen alle im gleichen Dorf wie du. Wir Grosskinder sind weiter weg. Macht dir das Mühe?
Ich hätte euch schon am liebsten auf einem Haufen. Könnte ich wählen, würde ich sagen: Chömet aui hei! Ich glaube, das geht vielen Grossmüttern so.

Familie war dir schon immer wichtig.
Ja. Meine Mutter hat meinen Bruder vorgezogen. Er war ein Schönling und hatte so ­etwas an sich. Das habe ich gespürt. Da­rum habe ich mir gesagt: Wenn ich mal Kinder habe, will ich keines vorziehen. Ich will alle gleich gerne ­haben.

Das hast du geschafft.
Ich glaube schon. Man kann das schon gerecht verteilen – man hat genug Platz für alle.

Wie ist es, wenn man Mutter wird?
Für mich war es das Grösste, was ich je erlebt habe. Ich weiss heute noch, wie ich beim ersten Sohn geschaut habe, ob alles dran ist, als man ihn mir in die Arme ­gelegt hat. Das Kind der Frau neben mir hatte keinen ­Daumen. Darum habe ich schnell gezählt. Es war alles da. (Lacht.)

Und wie ist es, Grossmutter zu werden?
Das ist noch einmal etwas anderes. Es ist nicht so, dass man die Grosskinder lieber hat. Aber man hat die Schmerzen der Geburt nicht und kann sie einfach nur ­geniessen und sie verwöhnen.

Möchtest du irgendwann Urgrossmutter werden?
Ja!

Das kam jetzt wie aus der Pistole geschossen.
Ja, auf das warte ich schon. Eine Frau hier ist Urgrossmutter geworden. Das hat so schön ausgesehen, als sie das Kleine in ihren Armen gewiegt hat. Das möchte ich auch erleben. Und dabei denken können: Dieses Kind gehört schon noch ein bisschen zu mir.

Dann denkst du, ich sollte fürschi machen?
Ja, das könntest du. (Lacht.) Nein, du musst schon parat sein. Aber ich hätte nichts dagegen.

In meinem Alter durftest du noch nicht abstimmen. Hat dich das beschäftigt?
Ich kannte es nicht anders. Und wir haben immer über die Abstimmungen diskutiert. Am Ende hat Ättä dann das hingeschrieben, was ich gesagt habe.

Also hatten hinter den Kulissen die Frauen das Sagen.
Sicher. Aber ich war trotzdem froh, als ich selbst abstimmen durfte. Im Nachhinein merkte man schon, dass es vorher nicht richtig war.

Ich mache mir viele Sorgen – auch im Hinblick auf die Klimakrise. Wie hättest du das wohl gesehen, wenn du jetzt so alt wärst wie ich?
Ich hätte mir auch Kummer gemacht. Und wäre wohl auch manchmal wütend ­gewesen auf die Leute.

Fühlst du dich alt?
Manchmal. Aber häufig bin ich selbst erstaunt, dass ich schon über 80 bin.

Etwas, was dich schon lange begleitet, ist das Lisme. Wie viele Socken und Pullis hast du schon glismet?
Ich habe keine Ahnung. Erst kürzlich dachte ich: Hätte ich doch nur Striche gemacht!

Hunderte?
Das sind doch mehr! Stell dir vor …

Bist du enttäuscht, dass ich nicht lismen kann?
Nein, das ist die Generation. Wenn du es unbedingt möchtest, würdest du das ohne wei­teres lernen.

Wie wird man so liebevoll wie du?
Bin ich liebevoll? (Lacht.)

Ja, sehr!
Ich weiss es nicht. Vielleicht sind es die Gene?

Eine Frage noch: Was wünschst du dir zu Weihnachten?
Dass es vorbei geht mit diesem Corona. Bei der Impfung dränge ich mich dann vor! (Lacht.) Sonst brauche ich nichts. Es ist genug, wenn ihr zu Besuch kommt.

Persönlich

Bethli Sollberger (81) ist Mutter von drei erwachsenen Kindern und fünffache Grossmutter. Vor ihrer Pensionierung arbeitete sie als Verkäuferin und Hausfrau. Bis zu seinem Tod Ende 2019 waren Bethli und Johnny Sollberger (†85) über 60 Jahre verheiratet. Seit etwas mehr als einem Jahr wohnt Bethli Sollberger in einem Altersheim im Berner Seeland.

Redaktorin Dana Liechti (26) ist Bethli Sollbergers zweit-älteste Enkelin.

Nathalie Taiana

Bethli Sollberger (81) ist Mutter von drei erwachsenen Kindern und fünffache Grossmutter. Vor ihrer Pensionierung arbeitete sie als Verkäuferin und Hausfrau. Bis zu seinem Tod Ende 2019 waren Bethli und Johnny Sollberger (†85) über 60 Jahre verheiratet. Seit etwas mehr als einem Jahr wohnt Bethli Sollberger in einem Altersheim im Berner Seeland.

Redaktorin Dana Liechti (26) ist Bethli Sollbergers zweit-älteste Enkelin.

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