Der stahlblaue Himmel. Die Sonne. Das atemberaubend schöne Panorama. Das alles sieht Marco Frigomosca (69) momentan nicht. Für den Bergbauern im hinteren Maggiatal ist die Natur jetzt und hier nur eines: grausam!
Er schaut auf ein kleines Lämmchen. Es humpelt. «Gestern schien es ihm noch besser zu gehen. Ich fürchte, ich muss es doch töten», sagt der Tessiner zu Blick. Das Lämmchen ist eines von 20 Tieren, die am Dienstagmorgen von einem oder mehreren Wölfen angegriffen wurden. 17 Schafe, Mutterschafe, zum Teil hoch trächtig, und drei kleine Osterlämmchen wurden getötet, vier weitere Tiere verletzt.
Es ist 7.30 Uhr in Cerentino TI. Marco Frigomosca schaut nach seinen Tieren und entdeckt das Desaster, wie er es nennt, nur wenige Meter oberhalb der Talstrasse. Er weiss sofort: «Das waren wieder die Wölfe!» Denn es ist nicht das erste Mal, dass der Schafzüchter mit den Raubtieren zu tun hat.
«Ich sah drei Wölfe, einen grossen schwarzen und zwei kleinere»
Im November 2015 reisst ein Männchen 14 Schafe und Ziegen (Blick berichtete). Vor drei Wochen sieht er die Wölfe sogar mit eigenen Augen. Direkt vor seiner Haustür. «Es war sieben Uhr morgens und schon hell. Ich trat auf die Terrasse und sah, wie drei Wölfe über meine Tiere herfielen», erzählt Marco Frigomosca. Zwei seiner Tiere werden getötet.
Am Dienstag die nächste Wolfs-Attacke. Und jetzt reicht es dem Bauern. Zusammen mit anderen Wolfsgegnern lädt er die Kadaver auf seinen weissen Pick-up und karrt sie nach Bellinzona TI. Vor dem Regierungspalast Orsoline werden die toten Tiere zum Protest auf das rote Kopfsteinpflaster geworfen.
«Der Kanton versteckt die Wahrheit. Sie nehmen die DNA der Wölfe auf, informieren uns aber nicht über die Resultate. Sie lassen die Räuber machen», schimpft Marco Frigomosca. Angeblich gäbe es nur elf Exemplare im Tessin. Auf Anfrage des Blicks erklärt die kantonale Jagdaufsicht, acht bis zehn Wölfe hätten in den vergangenen zwölf Monate den Südkanton passiert. «Das ist gelogen. Allein hier im kleinen Rovana-Tal (Seitental des Maggiatals) laufen sieben bis acht Wölfe herum. Sie kommen aus den angrenzenden italienischen Tälern.»
Wölfe laufen durch das Bergdorf
Lächerliche 100 Franken würde man für das gerissene Schaf als Entschädigung erhalten. Viel zu wenig. Marco Frigomosca hat in nur drei Wochen ein Drittel seiner Herde verloren. Doch es sei nicht das Geld, betont er. Der Bergbauer zu Blick: «Ich schlafe kaum noch, horche in die Nacht nach verdächtigen Geräuschen.» Er sehe keine Zukunft für sich und seine Schafe. Das sei kein Leben mehr.
Dabei gehe es nicht nur um Risse in den Herden. «Die Wölfe streiften im Spätherbst und im Winter durch den Nachbarort Cimalmotto, trabten seelenruhig zwischen den Häusern herum.» Sie seien in Fotofallen getappt, hätten Spuren hinterlassen. «Sie haben keine Angst vor den Menschen», sagt Marco Frigomosca. Für ihn ist klar: «Es sind Problem-Wölfe und eine Gefahr für uns und unsere Touristen.» Denn die Wölfe würden über die Wanderwege laufen.
Auch in anderen Teilen des Südkantons gibt es Wolfsrisse
Auch Nachbar Eros Beroggi (51) ist seit 2009 wiederholt Opfer von Wolfsattacken. «Ich habe mit der Bergwirtschaft vier Kinder grossgezogen. Jetzt traue ich mich nicht, die Schafe auf die Alp zu lassen. Einsperren aber kann ich sie auch nicht. Das ist gegen ihre Natur. Ich überlege, ob ich den Hof aufgebe», sagt der Besitzer von rund 82 Schafen und 65 Lämmern. Der Fehler sei schon vor 20 Jahren gemacht worden, als der erste Wolf auftauchte. «Man hätte die Anzahl regulieren müssen. Nun ist es zu spät. Es sind viel zu viele.»
Das Wolfsproblem teilen sich die beiden Männer aus dem Maggiatal mit anderen Bauern im Südkanton. Allein im April meldet die kantonale Jagdaufsicht drei weitere Wolfsangriffe im Nord- und Süd-Tessin und im Morobbiatal bei Bellinzona. Bei Taverne TI wurde ein Wolf sogar vom Zug überfahren.