Einzelhaft. Eine Stunde Hofgang am Tag. Kein Besuch. Kein Internet. Aber auch keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen. Und das für eine von der Bundesanwaltschaft vermutete IS-Terroristin. Jessica M.* (28) ist zurück im Tessin und hockt seit vergangenem Dienstag im Luganeser Untersuchungsgefängnis La Farera. Eine übliche U-Haft wie bei allen anderen Insassen auch.
Die Tessinerin hatte am 24. November kurz vor 14 Uhr in der Manor-Filiale der Altstadt von Lugano TI ein Blutbad angerichtet. Jessica M. erwarb ein Küchenmesser in der Haushaltswaren-Abteilung. In der Multimedia-Abteilung stürzte sie sich auf zwei Kundinnen. Die erste Frau würgte sie, der zweiten schnitt sie mit dem Messer einmal quer über den Hals. Dabei rief sie «Allahu akbar». Das zumindest berichten Zeugen. Mutige Anwesende konnten die Attentäterin festhalten und dem stark blutenden Opfer Erste Hilfe leisten und somit ihr Leben retten (BLICK berichtete).
Berner Ermittler scheitern an Italienisch-Kenntnissen
Jessica M. wird verhaftet und bis nach Mitternacht in Lugano verhört. Angesichts des Terrorverdachts übernimmt die Fedpol die Ermittlungen. «Am nächsten Morgen wurde meine Mandantin nach Bern gebracht», sagt ihr Anwalt Daniele Iuliucci. «Sie bekam einen Berner Anwalt zur Seite gestellt. Ich wurde gar nicht erst informiert.» Weder die Beamten der Fedpol, die Jessica M. befragten, noch der rechtliche Beistand hätten Italienisch gesprochen. Ein Unding, findet Iuliucci. Die Sprachbarriere sei schliesslich auch der Grund gewesen, die Attentäterin wieder ins Tessin zu schaffen.
Doch vielleicht steckt mehr hinter der Verlegung der U-Haft ins Tessin. Die Kommunikation seitens der Bundesanwaltschaft (BA) zum Fall weist Ungereimtheiten auf. Zwar verdächtigt sie die Täterin der versuchten vorsätzlichen Tötung, wirft ihr schwere Körperverletzung und Verstoss gegen das Verbot der Gruppierungen Al Kaida und Islamischer Staat (IS) vor, hatte aber die radikalisierte junge Frau offenbar über Jahre nicht mehr auf dem Schirm.
Psychiatrisches Gutachten gefordert
So heisst es, Jessica M. sei im Jahr 2017 beim Versuch, nach Syrien zu gelangen, an der türkischen Grenze aufgegriffen und in die Schweiz gebracht worden. Dort sei sie sogleich in eine psychiatrischen Klinik eingewiesen worden (BLICK berichtete). Danach, so die BA, sei die Tessinerin aber nicht durch straffällige Handlungen aufgefallen. Somit wurde nicht mehr gegen sie ermittelt.
Fiel die Tessinerin auch durch die Maschen des Nachrichtendienstes? Hatte nun Jessica M. Kontakte zum IS oder nicht? Wurde sie mit dem Attentat im Manor von Drittpersonen beauftragt? Oder handelte die Frau im Alleingang und in einer psychotischen Episode? Warum wurde die Gefährlichkeit dieser radikalisierten Muslimin und psychisch Kranken offenbar von niemanden ernst genommen? Fragen, die bislang unbeantwortet blieben.
Ist der IS-Verdacht bald vom Tisch?
«Ich halte meine Mandantin nicht für eine Terroristin und denke, man müsste auch den gesundheitlichen Aspekten auf den Grund gehen», sagt der Anwalt. Daher fordert Daniele Iuliucci ein psychiatrisches Gutachten. Ein solches wird nun von der Bundesanwaltschaft in Auftrag gegeben. Sollte es bestätigen, dass der Angriff im Wahn geschah, dann fällt die Ermittlungskompetenz möglicherweise an die Tessiner Staatsanwaltschaft, und der IS-Verdacht wäre vom Tisch.
Die Tessiner Kantonspolizei bleibt unterdessen beim Terrorakt. In einem Interview mit der RSI spricht Kapo-Sprecher Renato Pizzoli von «konkreten und übereinstimmenden Indizien», die bestätigen würden, dass der Anschlag aus extremistischen Motiven erfolgte.
* Name geändert