Es ist ein Jahr vergangen. Wie im Februar 2020 streichelt die Sonne die Seele. Christian Garzoni (47) schaut aus dem Fenster seiner Praxis vis-à-vis des Covid-Spitals Moncucco in Lugano TI. «Die Karnevalsferien hatten gerade begonnen. Wir wollten mit den Kindern (6, 8 und 10) in den Wintersport fahren», so der Tessiner. «Ich erinnere mich gut. Es war am Nachmittag. Da erschien die Push-Meldung auf dem Handy.»
Italienische Medien meldeten den ersten Corona-Patienten in der Lombardei. Rund 100 Kilometer von der Tessiner Grenze entfernt. Mit jeder Stunde stieg die Zahl der Corona-Infektionen in Codogno (I). «Es war alarmierend. Das Virus war in Europa angekommen», so Garzoni. Ein Satz schiesst ihm immer wieder durch den Kopf: «Jetzt geht es los!»
Der Direktor der Luganeser Privatklinik Moncucco war auf die Pandemie vorbereitet. Theoretisch. «Seit Wuhan hatten wir im Januar 2020 im Kanton einen Krisenstab gebildet. Ich war Teil davon», so der Arzt. Doch: «Dass die Pandemie so schnell kommen würde und mit solcher Wucht, das hatte ich nicht erwartet.»
Ein Kollege meldete den ersten Corona-Patienten der Schweiz
Christian Garzoni ist in Splügen GR, als ihn am Dienstag, den 24. Februar 2020 die Hiobsbotschaft erreicht. «Ein Kollege teilte mir mit: Wir haben den ersten Schweizer Corona-Patienten.» Ein Mann (70) aus Lugano, der sich zehn Tage zuvor bei einem Geschäftsessen in Mailand infiziert hatte. Garzoni bricht die Ferien ab, kehrt sofort heim.
«Der Mann hatte Husten, leichte Grippesymptome», erinnert sich der Tessiner Arzt. «Da wir noch keine Covid-Abteilung hatten, behandelten wir ihn gemäss interner Planung in einem speziellen Isolierungszimmer auf der Intensivstation.» Im Spital habe die Stille vor dem Sturm geherrscht. «Aber ich sah vor meinem inneren Auge den Tsunami auf uns zukommen», schildert der Infektiologe sein damaliges Entsetzen.
Christian Garzoni sollte recht behalten. Das Tessin wird von der ersten Welle überrollt. Zu Hunderten werden die Menschen in die Spitäler eingeliefert. Das Moncucco kämpft an vorderster Front. «Wir wussten nie, in welche Richtung sich die Krankheit bei den Patienten entwickeln würde. Wir waren waren oft ohnmächtig, da die Erkrankung neu und unbekannt war und es keine gezielte Therapie gab», erinnert sich Garzoni. Die Menschen hatten Panik – und «wir mussten erst lernen, mit ihrer Angst umzugehen». Viele sah der Arzt sterben.
«Wir dürfen nicht aufgeben, müssen kämpfen»
Verzweiflung könne man sich nicht leisten, sagt der Corona-Experte. Sein Credo: «Wir dürfen nicht aufgeben, wir müssen kämpfen.» Ob ihn die Pandemie verändert habe? «Ich weiss es nicht und habe eigentlich auch keine Zeit, darüber nachzudenken.»
Der Spitaldirektor übernimmt die Koordination der Corona-Patienten im Kanton. Er kümmert sich um die Kommunikation und sammelt Informationen: «Wir suchten nach Studien, die zum Virus veröffentlicht wurden, und nahmen an anderen teil.» Dazu kommt die Betreuung Schwererkrankter. Bis zu 14 Stunden dauert die Schicht. Immer in voller Schutzmontur. So sieht fortan der Alltag an der Privatklinik aus.
Jeder siebte Corona-Patient stirbt im Spital
Erschwerend hinzu kam zu Beginn der Pandemie das Unverständnis jenseits des Gotthards. «Daniel Koch und das BAG verstanden damals nicht, dass wir epidemisch zur Lombardei gehörten und dass wir schnell einen Lockdown brauchten – zum Beispiel die Schliessung der Schulen», sagt Garzoni.
Auch die zweite Welle trifft den Südkanton hart. «Jeder Siebte, der bei uns mit Corona eingeliefert wird, stirbt am Virus.» Die Situation sei noch immer schwierig und gefährlich. Man werde wohl oder übel mit dem Virus leben müssen. «Er wird immer wieder mutieren, und immer wieder werden wir die Impfstoffe anpassen müssen.»
Wie verheerend das Virus im Südkanton gewütet hat, zeigt die aktuelle Zahl der Opfer. Mit 954 Corona-Toten auf 350'000 Einwohner hat das Tessin gemessen an der Bevölkerungszahl fast doppelt so viele Tote zu verschmerzen wie die USA.