So tickte die Attentäterin von der Messerattacke in der Manor von Lugano
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Blick TV live vor Ort:So ist die Stimmung nach der Terror-Attacke in Lugano

Prozess gegen Jessica M. (29)
Staatsanwaltschaft fordert 14 Jahre Haft für Manor-Attentäterin

Vor zwei Jahren attackierte Jessica M. zwei zufällig ausgesuchte Frauen in der Haushaltsabteilung des Manor in Lugano TI mit einem Brotmesser. Seit Montag steht sie vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona.
Publiziert: 29.08.2022 um 01:10 Uhr
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Aktualisiert: 01.09.2022 um 12:04 Uhr
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Manor in Lugano am 24. November 2020: Wenige Stunden vor der Aufnahme attackierte Jessica M. hier zwei Kundinnen mit einem Brotmesser.
Foto: Rescue Media
Beat Michel

Die blutige Attacke hätte der zierlichen und bleichen Jessica M.* (29) niemand zugetraut, als sie am 24. November 2020 kurz vor 14 Uhr den Manor in Lugano betritt. In der Haushaltsabteilung im fünften Stock fragt sie eine Verkäuferin, welches Messer sich am besten zum Brotschneiden eigne. Mit der 21 Zentimeter langen gezackten Klinge greift sie kurz darauf zwei Frauen an und versucht sie zu töten.

Ab Montag muss sich M. vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona wegen mehrfach versuchten Mordes verantworten. Und weil die Tat als Terrorakt eingestuft wurde, auch wegen des Verstosses gegen das Bundesgesetz über das Verbot von Al Kaida und Islamischer Staat (IS).

Am Mittwoch fordert die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren für die Angeklagte.

Jessica M. würde Messerattacke wieder ausführen

Bei der Befragung hat die Angeklagte gesagt, dass sie die Attacke wieder, jedoch «bestimmter, effizienter» ausführen würde. Von der Richterin gefragt, wie sie heute auf die Messerattacke zurückblicke, sagte die Frau, sie bleibe bei ihrem Standpunkt.

In der Anklageschrift beschreibt die Staatsanwaltschaft, wie skrupellos Jessica M. vorgegangen ist: «Sie wählte gezielt Frauen als Opfer aus, weil sie sich weniger wehren können.» Und: «Selbst als das erste Opfer am Boden lag, fügte sie ihm am Hals weitere Verletzungen zu.» Der Schnitt am Hals sei mindestens zehn Zentimeter tief gewesen. Dabei schrie die Täterin «Allahu akbar» und «Ich werde den Propheten Mohammed rächen». Die Halsschlagader der Frau wurde nur um wenige Millimeter verfehlt.

Seit Jahren in Kontakt mit Islamisten

Jessica M. habe erst von ihrem Opfer abgelassen, als sie glaubte, die Frau sei tot. Danach habe sie sich auf die nächste Person gestürzt. Doch hier hatte sie keinen Erfolg. Ihr zweites Opfer erwischte laut Anklage die Hand, in der die Angreiferin das Messer hielt. So konnte es schlimmere Verletzungen verhindern. Sofort kamen Kunden und Angestellte des Kaufhauses zu Hilfe. Sie entwaffneten und fixierten die Attentäterin, bis die Polizei kam.

Im Gerichtssaal in Bellinzona zeigte sich Jessica M. von den präsentierten Bildern der tiefen Schnittwunde am Hals sowie an der Hand des einen Opfers unbeeindruckt. Beim Anblick dieser Wunden rühre sich nichts in ihr, sagte die Frau vor Gericht. «Die Schnittwunden scheinen mir nicht besonders tief.»

Keinen Mann attackiert, weil sie nicht von ihm berührt werden wollte

Auf die Frage, wie sie ihre beiden Opfer ausgesucht habe, sagte die Angeklagte, einen Mann hätte sie nicht attackieren wollen, denn von einem solchen wolle sie als Muslimin nicht berührt werden. Ausserdem wäre es schwieriger gewesen, einen Mann anzugreifen, erklärte sie vor Gericht. Sie habe sofort gewusst, welche Frau sie angreifen wolle, sie habe gespürt, welche Person es sein solle.

Ursprünglich habe sie an Heiligabend und nicht am 24. November eine Attacke verüben wollen. Sie habe jedoch befürchtet, dass es dann zu viele Menschen in der Stadt habe und sie zu schnell überwältigt würde. Die Angeklagte sprach vor Gericht selbst von einem «terroristischen Akt», den sie ausgeführt habe.

Wie aus der Anklageschrift nun klar wird, hatte die junge Frau bereits Jahre vor dem Anschlag im Internet Kontakt zu radikalen Gruppen. Spätestens seit 2016 hatte sie den Willen geäussert, im Namen des Islamischen Staates einen Terrorakt zu begehen. Sie habe den geplanten Anschlag über die Jahre kultiviert. Die letzten zwei Monate vor der Attacke setzte sie in einer Facebook-Gruppe 2507 Nachrichten mit meist pro-islamistischem Inhalt ab. Darunter schrieb sie: «Ich will Gott dienen, bis ich sterbe.» Am Tag darauf: «Ich will an der Waffe ausgebildet werden.»

Daten mit Spezialprogramm gelöscht

In einer anderen Nachricht ging sie noch weiter: Laut Anklage fragte sie auch nach Sprengstoffanschlägen auf christliche und jüdische Gotteshäuser in der Schweiz. Laut den Untersuchungsbehörden waren ihr Computer und ihr Mobiltelefon schwer auszuwerten, nur Tage vor dem Anschlag hat sie mit einem Spezialprogramm alle Daten gelöscht.

Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) und die Bundesanwaltschaft (BA) ermittelten bereits 2017 gegen die junge Frau. Jessica M. habe sich über soziale Medien in einen IS-Krieger verliebt und versucht, über die Türkei nach Syrien zu reisen. An der Grenze wurde M. allerdings festgehalten und in die Schweiz zurückgebracht. Die Angeklagte flüchtete sich in eine Welt des Wahns. Leben und Sterben für Allah sei «eine grosse Ehre», erklärte die 29-Jährige vor Gericht. Ihr Bekannter habe ihr Videos geschickt, die zeigten, wie man «Ungläubige eliminieren» könne, sagte sie. Er habe ihr jedoch davon abgeraten, alleine zu handeln.

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Einsamkeit, Extremismus, Depressionen

Jessica M. war bei der Heimkehr geistig verwirrt und wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Sie litt an manischer Depression, hiess es damals aus Insider-Kreisen. Gemäss einem psychiatrischen Gutachter leidet die Angeklagte an einer psychotischen Störung und ist geistig leicht zurückgeblieben. Er hielt fest, dass bei der Angeklagten bereits 2017 eine Psychose festgestellt worden war. Die mentale Störung der jungen Frau sei einer Schizophrenie ähnlich und habe sicherlich auch am Tag des Attentats bestanden, jedoch sei die Tat nicht als Resultat eines psychotischen Schubs zu verstehen, erklärte der Arzt. «Die Attacke war keine impulsive Handlung.»

Das Rückfälligkeitsrisiko stufte der Psychiater als mittelhoch ein. Als Therapie schlug er eine mindestens drei Jahre dauernde Behandlung in einer geschlossenen Anstalt vor. Neben der psychotischen Störung sei bei der Beschuldigten auch eine leichte geistige Zurückgebliebenheit diagnostiziert worden, und zwar bereits im Alter von drei Jahren, erklärte er. Die Oberstufe der obligatorischen Schulzeit habe die Angeklagte nicht abgeschlossen. Neben Lernschwierigkeiten leide die 29-Jährige auch unter einer mangelnden Fähigkeit, Beziehungen zu knüpfen.

Insgesamt zeigte sich der Psychiater nicht sehr optimistisch, was die gesundheitliche Entwicklung der Angeklagten betrifft. Gewisse Aspekte hätten sich seit der Messerattacke noch verstärkt, hielt der Arzt fest. Er bezweifelte vor Gericht, dass die Beschuldigte mithilfe einer Therapie eine bessere Urteilsfähigkeit entwickeln könne.

Verteidiger erhielt Drohbrief

Zuletzt wohnte sie allein in einer kleinen Wohnung eines Mehrfamilienhauses. Den Nachbarn fiel die Frau kaum auf. Sie sei sehr scheu gewesen, sagten sie nach der Attacke zu Blick. Weil sie so dünn war, hatte ihr eine Nachbarin gelegentlich sogar Kuchen gebracht.

Neben den erwähnten Delikten muss sich Jessica M. auch wegen illegaler Prostitution verantworten. Sie habe zwischen 2017 und 2020 wiederholt im Sexgewerbe gearbeitet, ohne sich bei den Behörden anzumelden. Das geforderte Strafmass wird die Bundesanwaltschaft erst während der Verhandlung bekannt geben.

Zu Beginn der Verhandlung reichte der Verteidiger der Angeklagten einen Drohbrief ein, den er am Montag erhalten hatte. Die nächste Attacke würde mit anderen Waffen als Messern verübt, las die vorsitzende Richterin vor. Der anonyme Schreiber bedroht in seinen Zeilen auch das Bundesstrafgericht.

*Name geändert

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