Das, was Tausende Tessiner gerade erleben, kennt Paolo Ferrari (59) aus eigener Erfahrung. Der Direktor der Dachorganisationen aller öffentlichen Spitäler im Kanton (EOC) hatte sich im April 2020 mit Covid-19 infiziert. «Ich war asymptomatisch», sagt der Mediziner, «Gott sei Dank.» In der ersten Welle tobte die Pandemie. Im Tessin herrschten zeitweise Zustände wie im damaligen Corona-Katastrophengebiet Lombardei. Ferrari erinnert sich: «25 bis 30 von 100 Menschen, die mit Corona ins Spital eingeliefert wurden, landeten auf der Intensivstation.»
Heute, so der Tessiner, infizieren sich 21-mal mehr Menschen im Südkanton. «In den vergangenen zehn Tagen waren es 15'000.» Die Hälfte aller Getesteten im Kanton hat das Virus. 90 Prozent der Positiven infizierten sich mit der Omikron-Variante.
Nur 15 Intensiv-Patienten im Tessin
Trotz der extrem hohen Inzidenz bleibt der Tessiner Spitalchef gelassen. «Omikron ist zwar sehr infektiös, hat aber weniger ernsthafte Krankheitsfolgen», so Ferrari. Vor allem bei Geimpften. 70,9 Prozent der Tessiner sind zweifach geimpft, 30 Prozent davon sind geboostert, bei den über 65-Jährigen sind es über 70 Prozent. Zudem hat der Südkanton ein Heer von Genesenen.
Nur 15 Patienten liegen zurzeit auf den Tessiner Intensivstationen. Gut drei Viertel davon sind ungeimpft. «Nach wie vor sterben vor allem Senioren im Alter über 75, deren Immunsystem altersbedingt geschwächt ist», so der Arzt. In den vergangenen 24 Stunden waren es vier Menschen. Dennoch, das Tessin hat seine Hausaufgaben gemacht. «Wir haben die Intensivpflege ausgebaut, in dem wir vor allem zusätzliche Pfleger ausgebildet haben», sagt Ferrari. Ausserdem sei jetzt jedes EOC-Spital auf Covid-Patienten eingerichtet.
Personalausfall wegen Omikron bereitet Sorgen
Es ist nicht die Zahl der Patienten, die ihm Sorge bereitet, sondern der zunehmende Personalausfall. «Zurzeit fehlen 120 Mitarbeiter, fast vier Prozent der Pflegekräfte und Ärzteschaft», sagt Ferrari. «Weil sie sich infiziert haben und in Quarantäne oder Isolation müssen.» Besonders kritisch werde es, wenn es zu Cluster-Infektionen kommt, «wie auf einer unserer Notfall-Stationen vergangene Woche. Da erkrankten plötzlich acht Ärzte. Wir mussten schnell handeln.»
Die Verkürzung der Quarantäne und Isolation kommt da gerade recht. «Es hilft, wenn leicht Infizierte oder Asymptomatische nach fünf oder sieben Tagen wieder arbeiten dürfen», sagt der EOC-Direktor. Ein weiteres Problem: Noch immer gäbe es ungeimpfte Pflegekräfte. Etwa 15 Prozent ihrer Spital-Belegschaft scheue bis heute den Piks, sagt Ferrari, man könne halt in der Schweiz niemanden zur Impfung zwingen.
In Italien gilt die Impfpflicht für Pflegepersonal
In Italien ist man weniger grosszügig. Dort gilt schon lange eine Impfpflicht für das Pflegepersonal. Für all jene allerdings, die in der Schweiz arbeiten, gilt die Impfpflicht nicht. Aufmerksam beobachtet der oberste Spitalchef neue Dekrete aus Rom. Denn 60 Prozent seines Pflegepersonals reist täglich aus Italien an.
Zu den neusten Corona-Regeln Italiens zählt die Impfpflicht für alle über 50-Jährigen. Nur mit dem Super-Green-Pass (also dreifach geimpft oder frisch von Corona genesen) dürfen Italiener ins Restaurant, zur Arbeit oder in den ÖV.
«Die Regierung ändern ständig ihre Massnahmen», sagt der Tessiner, «meine grösste Sorge ist, dass sie bald auch von den Grenzgängern bei der Rückreise nach Italien einen negativen Test verlangen könnten.» In dem Fall rechnet Ferrari mit erheblichen personellen Engpässen.
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