Taskforce-Mitglied Tanja Stadler will die Jagd nach Varianten ausweiten
«Im schlimmsten Fall impfen wir sonst ins Leere»

Die Biostatistikerin Tanja Stadler berechnet den R-Wert für die Schweiz. Und weiss, wie wir den neuen Corona-Varianten auf die Schliche kommen.
Publiziert: 01.04.2021 um 00:22 Uhr
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Aktualisiert: 07.05.2021 um 11:20 Uhr
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Tanja Stadler treibt die Sequenzierungen in der Schweiz massgeblich voran – und sagt, davon brauche es mehr.
Foto: ETH Zürich / Giulia Marthaler
Interview: Fabienne Kinzelmann

Kaum jemand weiss über das Infektionsgeschehen in der Schweiz besser Bescheid als sie: Tanja Stadler. Die Mathematikerin und Biostatistikerin berechnet, wie viele Menschen ein Corona-Infizierter in der Schweiz im Schnitt ansteckt. Und treibt auch landesweit die Jagd nach neuen Varianten voran. Im Interview mit BLICK erklärt die Top-Wissenschaftlerin, welche Entwicklungen ihr Sorgen bereiten – und wofür der Bundesrat dringend Geld lockermachen muss.

Wie gehts der Schweiz in Sachen Corona?
Tanja Stadler: Wir sind noch nicht über den Berg. Nach Weihnachten und Neujahr hatten wir die bekannten Varianten gut im Griff, die Fallzahlen haben sich etwa alle zwei Wochen halbiert. Dann kam die Variante B117 aus Grossbritannien, und jetzt verdoppeln sich die Fallzahlen wieder alle drei Wochen. Sie steigen also trotz schärferer Massnahmen wieder exponentiell.

Haben Sie auch gute Nachrichten?
Bei den über 75-Jährigen gehen wegen der Impfungen die Zahlen wirklich schön nach unten! Aber das reicht noch lange nicht, um die Epidemie in den Griff zu bekommen. Die etwa 60-Jährigen kommen schon wieder vermehrt ins Spital.

Fallzahlen, Todesfälle, Positivitätsrate, 7-Tage-Inzidenz, R-Wert – was ist denn eigentlich ausschlaggebend?
Wir schauen die Kombination all dieser Dinge an. Deswegen ist auch ein Ampelsystem – wie es etwa Italien hat – nur sinnvoll, wenn es gut aufgesetzt ist. Einzelne Zahlen reichen nicht, um die Situation in allen Facetten zu beschreiben.

Sie berechnen den R-Wert für die Schweiz. Wie entwickelt er sich aktuell?
Der ist momentan knapp bei 1,2. Das bedeutet: 10 Personen stecken 11 bis 12 Personen an. Die Epidemie breitet sich also aus – zwar langsamer als zu Beginn der ersten und zweiten Welle, doch die Zahlen zeigen wieder deutlich nach oben. Das ist beunruhigend. Die Ausbreitung der ansteckenderen britischen Variante B117, die mittlerweile in ganz Kontinentaleuropa dominant ist, haben wir noch nicht wirklich verlangsamt.

Deutschland hat strengere Massnahmen und trotzdem höhere Todesfälle als wir. Gibt es dafür eine Erklärung?
Wir hatten im Herbst mehr Todesfälle, momentan hat Deutschland mehr Todesfälle. Insgesamt sind zurzeit die Dynamiken in Deutschland und der Schweiz jedoch sehr ähnlich – die Zahlen verdoppeln sich rund alle drei Wochen. Das Bündel an Massnahmen und deren Umsetzung entscheidet über die Dynamik. Nur die Massnahmen zu verschärfen, bringt nichts. Die Gesellschaft muss für den Erfolg auch dahinterstehen und sie umsetzen.

Sie plädieren dafür, bei der Einschätzung der Lage auf die Schweizer Grossregionen zu schauen. Warum?
Daraus lassen sich Trends besser ableiten. Basel-Stadt und Baselland sind beispielsweise viel zu eng vernetzt, um sie getrennt anzuschauen. Wir haben aber auch zeitweise gesehen, dass es in der Romandie oder im Tessin eine etwas andere Dynamik gab als in Teilen der Deutschschweiz. Ist die Dynamik sehr unterschiedlich, kann man sich auch überlegen, ob eine Region mehr oder weniger Interventionen braucht. Momentan sehen wir leider, dass die Zahlen in wirklich allen grossen Regionen steigen – und das auch mit der gleichen Dynamik.

Wie sehr machen Ihnen die Varianten aus Südafrika und Brasilien Sorgen, die möglicherweise gegen Impfungen immun sind?
Beide sind unabhängig voneinander entstanden und breiten sich in beiden Ländern extrem schnell aus. In der Schweiz hat sich bisher von den drei neuen Varianten nur B117 durchgesetzt. Jedoch werden sich B.1.351 und P.1 vermutlich auch in der Schweiz etablieren. Die Frage ist zudem, was passiert, wenn wir durch Infektionen und Impfungen genügend Immunität gegen B117 haben. Dann wäre B117 in der Ausbreitung abgebremst – aber andere Varianten, welche die Immunabwehr zum Teil umgehen, könnten sich besser ausbreiten. Gerade laufen sehr viele Untersuchungen bezüglich der Wirksamkeit der Impfstoffe gegen die verschiedenen Varianten. Zum Teil wirken die in der Schweiz verfügbaren Impfstoffe wohl auch gegen die Varianten aus Südafrika und Brasilien. Aber wir müssen diese und weitere neue Varianten genau beobachten, um gegebenenfalls den Impfstoff anzupassen.

Wie erfahren wir eigentlich von neuen Varianten?
Das geht über genomische Charakterisierung, die sogenannte Sequenzierung. Wir sequenzieren von einem Teil der bestätigten Fälle die Genome des Virus. Dabei können wir genau sehen, wie es aufgebaut ist. Je mehr Fälle wir sequenzieren, desto genauer wissen wir, welche Varianten zirkulieren.

Sequenzieren wir in der Schweiz genug?
Nein. Wir sind bei 5 bis 7 Prozent aller bestätigten Fälle. Grossbritannien ist bei 10 Prozent, das ist auch unser Ziel. Dank den Briten wussten wir früh um die Gefährlichkeit von B117. Zusätzlich zu einer Sequenzierung von möglichst über 10 Prozent aller bestätigten Fälle aus der ganzen Schweiz müssen dringend alle Sars-CoV-2-Proben von geimpften Personen zur Sequenzierung geschickt werden. Diese ist unbedingt notwendig, weil wir nur so erkennen, ob und welche neuen Varianten die Impfwirkung reduzieren. Sonst impfen wir im schlimmsten Fall ins Leere.

Was fehlt uns für mehr Sequenzierungen?
Die finanziellen Mittel. Eine Sequenzierung mit allen Schritten im Labor kostet rund 70 Franken. Dazu kommen dann Bioinformatik und statistische Analyse. Die Kosten pro Probe sind zwar weniger hoch als ein PCR-Test, aber bei angestrebten Sequenzierungen von 10 Prozent natürlich schon ein Aufwand – allerdings einer, der sich lohnt.

Wer zahlt das?
In 2020 waren dies einzelne Forschungsgruppen. Wir haben die Laborkosten und zusätzliche Mitarbeiter finanziert. Ich habe das Privileg, dass ich Forschungsgelder hatte, welche ich dafür anfangs verwenden konnte. In dieser Extremsituation haben wir das alle sehr gerne gemacht, aber das ist natürlich kein dauerhafter Zustand. Nun hat der Bund Gelder gesprochen, um die Sequenzierung im kommenden Jahr sicherzustellen. Aber unterschrieben ist noch nichts. Sobald die Finanzierung geklärt ist, können hoffentlich die verschiedenen Sequenzierlabors gemeinsam eine bessere genomische Überwachung in der Schweiz sicherstellen.

Alle Länder um uns herum fahren gerade wieder runter, auch in Deutschland droht noch mal ein Mega-Lockdown. Kommt die Schweiz ohne aus?
Deutschland hat ja bereits härtere Massnahmen, aber die Dynamik ist etwa die gleiche. Nur Massnahmen verschärfen und niemand hält sich daran, das wird nicht funktionieren. Ich glaube, jedes Land muss für sich einen Weg finden. Wie schaffen wir es in der Schweiz, dass die Leute besser mitziehen und die Zahlen wieder sinken? Gleichzeitig brauchen wir in der Impfphase eine gesunde Bevölkerung. Wir müssen uns alle zusammen noch einmal aufraffen und durchhalten, bis wir alle geimpft haben. Sich jetzt noch eine Infektion mit schwerem Verlauf oder Langzeitfolgen einzufangen, ist mit der Aussicht auf die Impfung unnötig.

Dänemark will öffnen, sobald die Risikogruppe geimpft ist. Eine gute Idee?
Wenn wir wüssten, dass es in den restlichen Gruppen keine schweren Verläufe oder Long Covid gäbe, ja. Aber so ist es leider nicht. Es kann jeden treffen. Im Alter erhöht sich nur das Risiko eines schweren Verlaufs. Schon jetzt landen Sechzigjährige vermehrt auf der Intensivstation. Ich plädiere dafür, dass wir uns als Gesellschaft bestmöglich schützen, bis alle eine Chance auf eine Impfung haben.

In Deutschland gibt es «Modellregionen». In Tübingen darf man mit Test und Tagesticket sogar ins Theater. Brauchen wir das auch in der Schweiz?
Man sollte solche Experimente auf jeden Fall wissenschaftlich begleiten. Auswertungen der Ergebnisse erlauben es uns dann, das generelle Vorgehen zu verbessern. Insbesondere denke ich da auch an die Kinder und die Schulen – wie erfolgreich ist das regelmässige Testen und inwieweit hilft uns dies, Schulen sicher offen zu halten?

Mehrere Ihrer Kollegen haben die Corona-Taskforce frustriert verlassen. Können Sie das nachvollziehen?
Es ist natürlich eine extreme zeitliche Beanspruchung. Wir machen das ehrenamtlich – neben Vorlesungen, Forschung und anderen Projekten. Für mich ist es sehr herausfordernd, teilweise frustrierend, aber auch motivierend. Wir möchten ja die Informationen bereitstellen. Das, was wir jeweils wissen.

Hört der Bundesrat gerade genug auf die Wissenschaft?
Die wissenschaftliche Taskforce hat momentan einen sehr guten Austausch und sehr konstruktive Diskussionen mit dem Bundesrat. Am Ende des Tages müssen die Politiker verschiedenste Aspekte mit einbeziehen und auf teils unsicherer Daten- und Erkenntnislage Entscheidungen treffen. Und das gilt es zu akzeptieren.

Selbst beim R-Wert, schreiben Sie in einem Blog-Beitrag, gäbe es ein «Unsicherheitsintervall»: Wir wissen eigentlich nicht, ob er sich bei 1,2 befindet – oder bei 1,1 oder 1,3. Gibt es eigentlich noch irgendwas, auf das wir uns in dieser Pandemie verlassen können?
Die Impfungen sind sehr wirksam bei den momentan zirkulierenden Viren. Das sehen wir bei den über 75-Jährigen. Und das wird sich, solange sich das Virus nicht gravierend verändert, auch nicht ändern. Wir haben also wirklich einen riesigen Lichtblick auf unserem Weg, die Lage in der Schweiz in den Griff zu bekommen. Jetzt gilt es, rasch und viele zu impfen – das gibt uns auch wieder Sicherheit.

Dem Virus auf der Spur

Die ETH-Professorin Tanja Stadler (39) forscht im Schnittbereich von Mathematik, Computerwissenschaften, Evolution, Ökologie und Infektionskrankheiten – mit dem Ziel, künftige Epidemien im Keim zu ersticken. In der Corona-Taskforce des Bundes leitet die in Stuttgart (D) geborene Biostatistikerin die Gruppe «Data and Modelling» und berechnet den R-Wert für die Schweiz.

ETH Zürich / Giulia Marthaler

Die ETH-Professorin Tanja Stadler (39) forscht im Schnittbereich von Mathematik, Computerwissenschaften, Evolution, Ökologie und Infektionskrankheiten – mit dem Ziel, künftige Epidemien im Keim zu ersticken. In der Corona-Taskforce des Bundes leitet die in Stuttgart (D) geborene Biostatistikerin die Gruppe «Data and Modelling» und berechnet den R-Wert für die Schweiz.

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