Tankstellen-Überfälle haben sich im Corona-Jahr verdoppelt
Magere Beute, fettes Risiko

Im Corona-Jahr 2020 standen Tankstellen-Überfälle hoch im Kurs. Im Kanton Zürich beispielsweise gab es doppelt so viele wie sonst. Taten, die für die Opfer oft drastische Folgen haben.
Publiziert: 05.07.2021 um 01:21 Uhr
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Aktualisiert: 05.07.2021 um 07:52 Uhr
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Die inzwischen pensionierte Tankstellenverkäuferin Sonja B.* (64) wurde zweimal überfallen.
Foto: Céline Trachsel
Céline Trachsel

Der Täter zeigte Sonja B.* (64) ein Messer und verstaute es schnell wieder in seiner Jackentasche. Es tue ihm leid, aber er müsse leider das Geld aus der Kasse haben, sagte der Mann zu der Tankstellenverkäuferin. Er wolle ihr aber nichts antun. Trotz der milden Worte befand sich Sonja B. sofort in Schockstarre.

Überfälle auf Tankstellen, Kioske und kleine Shops sind in der Schweiz keine Seltenheit. Allein in den Kantonen Bern, Zürich und Aargau schlagen die Täter mindestens einmal pro Monat zu. Wohl weil sie glauben, schnell und einfach an Geld zu kommen.

Raub-Boom im Corona-Jahr

Im Corona-Jahr 2020 haben Raubüberfälle schweizweit um vier Prozent zugenommen, in bestimmten Kategorien gab es sogar massiv mehr Delikte. So gab es im Kanton Zürich beispielsweise doppelt so viele Tankstellenüberfälle wie in den Jahren 2018 und 2019. Insgesamt schlugen Räuber im Jahr 2020 in zehn Zürcher Tankstellenshops zu (Vorjahre: nur 5 bzw. 4 Fälle). Nimmt man die Überfälle auf Banken, Postfilialen und Läden hinzu, waren es im Corona-Jahr allein im Kanton Zürich 19 derartige Taten.

«Bei Vermögensdelikten ist die Motivation, ein solches zu begehen, die finanzielle Not», erklärt der Zürcher Strafrechtsanwalt Jürg Krumm. Er verteidigte schon einige Täter, die Raubüberfälle begangen hatten. Er führt aus: «Oder man will sich Sachen kaufen, die man sich sonst nicht leisten könnte. Tankstellenüberfälle passieren also in einer Art ökonomischer Verzweiflung, sich schnellstmöglich Geld zu beschaffen.» Es handle sich laut Krumm sowohl um geplante als auch um spontane Delikte. Die Täter stammten vorwiegend aus tieferen sozialen Schichten und seien eher jung – oft auch schon vorbestraft, also meist Kleinkriminelle.

Kleine Beute, grosses Risiko

Krumm sagt klar: «Sie riskieren Gefängnis für wenige 100 Franken. Die Beute ist normalerweise verhältnismässig klein in Bezug auf die Strafe, die droht, sowie das Unheil, das man anrichtet.»

Denn: Meist lägen nur wenige Hundert Franken in der Kasse, weil diese mehrmals täglich geleert wird – selten mal ein tiefer vierstelliger Betrag. Die Strafen reichen dagegen von bedingten bis zu mehrjährigen Freiheitsstrafen – und ganz sicher Untersuchungshaft, wenn ein Täter geschnappt wird. Die Aufklärungsquote bei Raubdelikten liegt laut der schweizerischen Kriminalstatistik bei 48 Prozent.

Jeder Betreiber mit geheimen Sicherheitskonzepten

Bei der Frage, was Polizei und Shop-Betreiber tun, um Überfälle zu verhindern, lässt sich niemand in die Karten blicken. «Wir haben ein Sicherheitskonzept und auch Betreuung im Bedarfsfall. Mehr möchten wir aus Sicherheitsgründen nicht sagen», erklärt Sabine Schenker, Mediensprecherin der Coop Mineraloel AG.

Ähnlich klingt es bei Valora, die Gruppe betreibt die K Kioske. «Valora legt grossen Wert auf die Sicherheit ihrer Mitarbeitenden. Aus diesem Grund werden die Geschäftsführer regelmässig zu Sicherheitsthemen geschult – dazu gehört auch das Verhalten bei Überfällen», sagt der Kommunikationsbeauftragte Martin Zehnder.

Die Kantonspolizei Zürich antwortet weder auf Fragen zur Prävention noch zu den Schwierigkeiten bei den Ermittlungen. Mediensprecher Alexander Renner verrät nur: «Eine Beliebtheitsskala bei den jeweiligen Shops ist nicht erkennbar.» Egal, welche Fluchtmöglichkeit, und egal, ob ländliche oder urbane Lage – jeden Shop könne es treffen.

Schulungen und Nachbetreuungen

Bei der Volg-Medienstelle, zu der die Top Shops der Agrola-Tankstellen gehören, heisst es: «Das Thema Überfälle wird in internen Schulungen regelmässig thematisiert und die Mitarbeitenden werden geschult, um sich im Notfall korrekt zu verhalten.» Bei Migrolino antwortet Mediensprecher Marco Fallico, es gebe obligatorische Lernmodule und Plakate mit den wichtigsten Verhaltens- und Notfallanweisungen: «Oberstes Gebot für Mitarbeitende ist, Ruhe zu bewahren, sich selber und anwesende Kunden nicht in Gefahr zu bringen.»

Alle angefragten Ladenketten geben zudem an, dass den Betroffenen nach einem Überfall ein Care-Team zur Verfügung steht. Denn die psychischen Folgen bei den Opfern sind nicht zu unterschätzen.

Blick sprach mit mehreren Opfern. Sonja B. wurde in Embrach ZH zweimal ausgeraubt. Beide Male ging sie danach wieder normal zur Arbeit – bis zu ihrer Pension. Aber das Gefühl, jemand könnte ihr Böses antun, das blieb. «Ich blickte fortan immer über die Schultern zurück, wenn ich unterwegs war.»

Nach dem Überfall in Therapie

Nicht zur Arbeit zurückgekehrt ist eine jüngere Berufskollegin von Sonja B. – die Flugbegleiterin hatte sich wegen Corona einen neuen Job suchen müssen. «Sie hatte sich oft gefürchtet, frühmorgens oder spätabends alleine im Tankstellenshop zu sein», erzählt eine Arbeitskollegin. «An einem Tag, an dem sie davon sprach, ein schlechtes Gefühl zu haben, passierte der Überfall.» Die Frau gab die neue Stelle sofort wieder auf.

Nicht freiwillig aufgehört hat auch eine inzwischen pensionierte Verkäuferin aus einem Winterthurer Tankstellenshop. Sie erzählt: «Nach dem zweiten Überfall hat mir der Chef gekündigt. Als hätte ich mich extra überfallen lassen!» Nebst den finanziellen Einbussen plagte sie die Tat lange Zeit auch mental: Sie habe Tabletten nehmen müssen, um wieder normal zu funktionieren. «Es ist zwar Jahre her, aber heute darüber zu sprechen, das wühlt wieder alles auf.» Ein ausführliches Interview will sie deshalb nicht geben.

Strafverteidiger Jürg Krumm weiss: «Die meisten Täter entwickeln sehr bald Reue, weil sie merken, was sie der Verkäuferin oder dem Verkäufer angetan haben. Manche wissen das von Anfang an, manche realisieren es erst im Nachhinein und dann tut es ihnen extrem leid.» Ein kleiner Teil der Täter sei dagegen «sehr abgebrüht» – denen seien die Folgen egal.

Je brutaler die Tat, desto grösser die Nachwirkung

Ob ein Opfer einen Überfall gut wegstecke oder nicht, hänge laut Krumm sehr von der Person sowie der Tathandlung ab. «Wenn jemand eine Pistole vor dem Gesicht hat und glaubt, sie sei echt und der Täter meine seine Drohung ernst, dann ist das Opfer sicherlich in Todesangst. Das ist nichts, was man erleben will.»

Auch Sonja B. sagt: «Es kommt sehr darauf an, wie der Überfall abläuft. Bei meinem ersten stand ich vor dem Laden und rannte weg, beim zweiten befand ich mich aber im engen Shop und war ausgeliefert. Das hat mir viel mehr zu schaffen gemacht.» Sie kenne auch Verkäuferinnen, die gar in andere Räume gezwungen und auf dem Boden gefesselt wurden. «Ich glaube, wenn ich so was erlebt hätte, wäre ich nie mehr zur Arbeit zurückgekehrt.»

* Name geändert

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