Streitgespräch zum Verhüllungsverbot
«Dem Egerkinger Komitee sind Frauenrechte doch egal»

Eine Woche vor der Abstimmung polarisiert das Verhüllungsverbot mehr denn je: Wir haben mit den Islam-Expertinnen Elham Manea (54) und Rifa'at Lenzin (67) über Sinn und Unsinn der Burka diskutiert.
Publiziert: 28.02.2021 um 13:34 Uhr
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Aktualisiert: 11.03.2021 um 18:03 Uhr
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Dieses Stück Stoff hält die Schweiz derzeit auf Trab: Der Nikab – Gesichtsschleier. Am 7. März stimmen wir über das Verbot ab.
Foto: Keystone
Interview: Rebecca Wyss

Wann haben Sie sich zuletzt aufgeregt?
Elham Manea: Ich habe einen hohen Blutdruck. In der letzten Zeit ist er noch höher als sonst. Man zeigt immer nur eine Seite, die andere blendet man aus. Die Polarisierung finde ich nicht gut. Gerade mache ich Pause von Twitter.

Rifa’at Lenzin: So ist es. Über das nationale «Frauenkomitee gegen die Burka-Initiative» hat nur BLICK berichtet, kein Medium sonst. Das Pro-Komitee hört man auf allen Kanälen. Die Medien berichten überhaupt nicht ausgewogen.

Warum wollen Sie den Nikab und die Burka verbieten, Frau Manea?
Manea: Der Nikab gehört zu einer fundamentalistischen Ideologie des Islam. Diese Tatsache wird in der Schweiz ausgeblendet. Ich zitiere aus einem berühmten Buch, das von einer Gruppe von salafistischen Gelehrten geschrieben wurde: «Frau, dein Mann ist dein Meister, du bist seine Gefangene, folge ihm, und du kommst ins Paradies.» Mädchen dürfen vor ihrem Vater, Onkel oder Bruder keine eng anliegende Kleidung tragen, weil dies sie sexuell erregen könnte. Sechsjährige, die einen «üppigen Körper» haben, sollen eine Burka tragen!

Die muslimische Feministin

Elham Manea wurde 1966 als Tochter eines Diplomaten geboren und wuchs in verschiedenen arabischen und westlichen Ländern auf. An der Universität Zürich arbeitet sie als Privatdozentin für Politikwissenschaft. Manea forscht zu Frauen unter islamischen Gesetzen, Gender und Politik im arabischen Raum und Islamismus. Sie ist Mitglied im Vorstand des Forums für einen fortschrittlichen Islam. Die jemenitisch-schweizerische Doppelbürgerin lebt in Bern.

Philippe Rossier

Elham Manea wurde 1966 als Tochter eines Diplomaten geboren und wuchs in verschiedenen arabischen und westlichen Ländern auf. An der Universität Zürich arbeitet sie als Privatdozentin für Politikwissenschaft. Manea forscht zu Frauen unter islamischen Gesetzen, Gender und Politik im arabischen Raum und Islamismus. Sie ist Mitglied im Vorstand des Forums für einen fortschrittlichen Islam. Die jemenitisch-schweizerische Doppelbürgerin lebt in Bern.

Diese Gelehrten leben im arabischen Raum, was bringt da ein Verbot bei uns?
Manea: Wir stehen damit als Gesellschaft für unsere humanistischen Werte ein. Wir legen Regeln fest, die für alle in diesem Land gelten, damit ziehen wir eine Grenze. Wir zeigen Haltung gegenüber dem Islamismus. Die Burka ist ein islamistisches Symbol.

Lenzin: Ist das nicht eine Art «Déformation professionnelle»? Du beschäftigst dich so eingehend mit Fundamentalismus, dass du bei einem Nikab immer gleich Islamismus siehst.

Manea: Nein. Ich sehe den Kontext. Ich kann meine Augen davor nicht verschliessen.

Warum sind Sie gegen ein Verhüllungsverbot, Frau Lenzin?
Lenzin:
Du hast von Regeln gesprochen, Elham. Ein Grundrecht in der Schweiz ist die Religionsfreiheit – ein hohes Gut. Angenommen du, Elham, willst als Muslimin einen Gebetsraum errichten, in dem Frauen und Männer gemeinsam beten und Frauen als Imaminnen arbeiten. Diese Gelehrten, die du zitiert hast, würden sagen, das sei «haram» – also verboten. Aber das Schweizer Recht würde dich schützen, weil es um deine persönliche Religionsfreiheit geht. Deshalb muss auch das Tragen einer Burka oder eines Nikab durch die Religionsfreiheit geschützt sein.

Die muslimische Vermittlerin

Rifa'at Lenzin ist Tochter pakistanisch-schweizerischer Eltern, sie studierte Islamwissenschaft, Religionswissenschaften und Philosophie. Lenzin hat sich im interreligiösen Dialog einen Namen gemacht – und dafür einen Ehrendoktortitel der Universität Bern erhalten. Unterstützt vom Kanton Zürich baute sie zuletzt unter anderem eine muslimische Seelsorge in öffentlichen Institutionen mit auf. Rifa'at Lenzin wohnt mit ihrem Mann in Montreux VD.

Philippe Rossier

Rifa'at Lenzin ist Tochter pakistanisch-schweizerischer Eltern, sie studierte Islamwissenschaft, Religionswissenschaften und Philosophie. Lenzin hat sich im interreligiösen Dialog einen Namen gemacht – und dafür einen Ehrendoktortitel der Universität Bern erhalten. Unterstützt vom Kanton Zürich baute sie zuletzt unter anderem eine muslimische Seelsorge in öffentlichen Institutionen mit auf. Rifa'at Lenzin wohnt mit ihrem Mann in Montreux VD.

Die Exponenten des Egerkinger Komitees suggerieren, dass die Frauen zur Burka gezwungen werden und man sie davon befreien müsste. Was ist da dran?
Manea: Das ist ein falsches Bild. In Europa tragen viele Frauen den Nikab freiwillig. Oft sind das Konvertierte oder westliche Musliminnen, die die Religion wiederentdeckt haben.

Lenzin: Mich stört dieser Retter-Diskurs, weil es ein kolonialistischer Diskurs ist: Der Westen muss die rückständigen Muslime befreien. Das Argument benutzten auch die Amerikaner, als sie in Afghanistan einmarschierten: Wir müssen die armen Frauen von der Burka befreien. Das ist ein Scheinargument. Dem Egerkinger Komitee sind Frauenrechte doch egal.

Manea: Das stimmt, das Anliegen ist trotzdem legitim. Ich habe in Grossbritannien und Südafrika Frauen unter muslimischen Gesetzen erforscht. In Grossbritannien gibt es abgeschottete Gemeinschaften. Das haben wir in der Schweiz nicht. Britische Sozialarbeiterinnen sagten mir, sie müssten ein Kopftuch tragen, um Zugang zu den Frauen in diesen Gemeinschaften zu bekommen. In beiden Ländern gab es vor 20 Jahren keinen Nikab, heute sieht man das. In Südafrika tragen mittlerweile vereinzelt sogar Mädchen einen Nikab.

Haben wir in der Schweiz eine Radikalisierung zu befürchten?
Manea:
Die Situation kann nicht mit anderen Ländern verglichen werden. Aber es gibt islamistische Tendenzen. Wir müssen wachsam sein.

Lenzin: Wir leben in einem Zeitalter zunehmender Radikalismen auf allen Ebenen. Nationalisten und Rechtsradikale erstarken überall, Religionsgemeinschaften beschäftigen sich mehr mit der Schärfung des eigenen Profils als mit Ökumene, und in Frankreich beobachten wir einen zunehmend radikaleren Laizismus. Die Polarisierung nimmt zu.

Manea: Es kamen auch schon Schweizer Musliminnen und Muslime auf mich zu, die radikale Entwicklungen beobachtet haben, die sie nicht billigen. In einigen französischsprachigen Kantonen gibt es Islamisierungs-Tendenzen.

Sind wir in der Schweiz zu blauäugig?
Manea: Es gibt da in gewissen Kreisen einen Reflex: Sie zögern, unbequeme Fragen zu stellen, weil sie die Muslime nicht in Verruf bringen wollen. Ich verstehe diese Angst, aber sie bietet keine Lösungen.

Dieser Schutz-Reflex der Linken gegenüber Muslimen ist eine Reaktion auf die Minarett-Initiative. Was hat diese mit den Muslimen gemacht, Frau Lenzin?
Lenzin:
Die Anti-Minarett-Initiative war prägend. Damals hat man den Muslimen zum ersten Mal das Gefühl gegeben: Ihr gehört hier nicht dazu. Ein Gefühl, das die jüdische Minderheit schon lange kennt.

Inwiefern ist das vergleichbar?
Lenzin:
Ich habe einmal eine jüdische Kollegin gefragt, weshalb sie ihr Kind in die jüdische Schule schickt. Sie gehört zur liberalen Gemeinschaft. Sie sagte: Dann kann es einfach mal Jude sein, ohne dauernd hinterfragt zu werden. Ich bin in der Schweiz aufgewachsen. Zu meiner Zeit interessierte es niemanden, ob ich Muslimin bin. Junge Muslime heute müssen sich fragen: Wer bin ich als Muslim? Wie positioniere ich mich in Bezug auf meine Religion? Ich bin selber ein religiöser Mensch, aber diese von aussen erzwungene Beschäftigung mit der eigenen Religion finde ich nicht gut.

Manea: Die Tatsache, dass man die Menschen auf ihre Religiosität reduziert, führt zu einer Identitätskrise.

Lenzin: Richtig. Es gibt junge Muslime, die eigentlich mit Religion nie viel am Hut hatten. Bei ihrer Identitätssuche bewegen sie sich viel im Internet und können dann auch bei fundamentalistischen Websites landen. Beim Verhüllungsverbot haben wir wieder den gleichen Diskurs wie schon bei der Anti-Minarett-Initiative. Die Muslime stehen erneut im Fokus und werden erneut stigmatisiert. Das ist kontraproduktiv. Radikale fallen nicht vom Himmel, sondern werden dazu gemacht. Je grösser der Druck von aussen ist, desto grösser ist die Gefahr, dass sich die Muslime aus der Gesellschaft zurückziehen. Noch haben wir kein Problem mit einem islamisch-fundamentalistischen Milieu.

Was schützt vor einer solchen Radikalisierung?
Manea: Es braucht aktive Bürgerschaft. Das Gefühl: Ich bin ein Teil dieser Gesellschaft.

Lenzin: Dieses Gefühl muss man den Muslimen vermitteln. Doch die Gesellschaft macht das Gegenteil. Man erwartet zwar, dass sie sich einbringen, geht aber kaum auf sie zu. Es bräuchte eine rechtliche Anerkennung der muslimischen Gemeinschaften. Leider ist da im Moment kaum etwas zu machen, da entsprechende Volksabstimmungen derzeit nicht zu gewinnen sind. Ein massives Problem wie in Frankreich haben wir aber nicht. Muslime sind im Allgemeinen gut integriert.

Manea: Und es braucht Forschung. Nach dem 7. März müssen Politiker, Forscher und muslimische Gemeinschaften zusammenarbeiten, um zu schauen, inwiefern wir wo ein Problem haben. Schweigen hilft niemandem, das habe ich selber erlebt.

Inwiefern prägt Ihre Biografie Ihr Ja zum Verhüllungsverbot, Frau Manea?
Manea: Ich bin Feministin, Rifa’at will das Wort nicht benutzen. (lacht) Ich habe in vielen arabischen und muslimischen Ländern gelebt und habe gesehen, wie das Patriarchat und Islamismus einige Geschlechtermuster aufrechterhalten. Ich habe erlebt, wie meine Mutter ihren Verstand verloren hat, weil alle geschwiegen haben. Deshalb exponiere ich mich bei der aktuellen Debatte, obwohl ich Auseinandersetzungen überhaupt nicht mag. Ich bin leidenschaftliche Forscherin, suche das Scheinwerferlicht nicht.

Wie ist es bei Ihnen, Frau Lenzin?
Lenzin: Ich habe einen schweizerisch-pakistanischen Hintergrund, bin in der Schweiz aufgewachsen und habe zeitweise in Pakistan gelebt. Als Kind hat man immer den Wunsch, zugehörig zu sein. Ich habe aber früh gemerkt, dass ich nie voll dazugehören werde.

Manea: Warum?

Lenzin: Nicht wegen der Religion. Sondern weil ich von klein auf hörbehindert bin. Ich musste lernen, mit dieser Beeinträchtigung zu leben, mich zu arrangieren. Dieses Gefühl, nie ganz dazuzugehören, ist Teil meiner Identität. Irgendwann fand ich es zwischen den Stühlen ganz bequem. Es hilft mir auch, mich für den interreligiösen Dialog und ein gutes Zusammenleben in der Schweiz zu engagieren.

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