Das Bangen um die Heimat. Der drohende Abschiedsschmerz. Die ungewisse Zukunft. Vieles von dem, was so mancher Brienzer heute bedrücken mag, haben auch schon die Bewohner von La Presa TI empfunden. Die kleine Berggemeinschaft verliess ihre Häuser, ihr Hab und Gut, und kehrte nie wieder zurück ins Bavonatal.
Der Grund war der gleiche wie in Brienz: Ein Erdrutsch hing wie ein Damoklesschwert über dem Weiler. Das war vor über 400 Jahren. Der Hang hielt. Geblieben sind Ruinen aus Stein: ein Kirchlein, zwölf Häuser, Ställe, Holzspeicher für Roggen, eine Mühle, ein Kalkofen.
Pest, Hunger und ein hartes Klima
Ein weiteres mittelalterliches Geisterdorf im Tessin ist Prada, oberhalb von Bellinzona TI. Einst bewohnten rund 200 Menschen die 30 Gebäude. Mitte des 17. Jahrhunderts flohen die Familien aus ihrem kleinen Ort. Vor der Pest, dem Hunger und dem harten Klima, vermuten Historiker.
Doch nicht nur die Natur vertreibt Schweizer Bürger und zerstört ihre Dörfer, sondern auch der technische Fortschritt. Über ein Dutzend Dörfer, Weiler und Ortsteile mussten im vergangenen Jahrhundert Stausee-Projekten weichen. Fast jeder Bergkanton kennt solche Geschichten.
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Das Tal, das Goethe einst beschrieb, wurde 1937 geflutet
Da wäre der Sihlsee bei Einsiedeln SZ. Der Bau des flächenmässig grössten Stausees der Schweiz begann 1932. Oberhalb der damaligen Dörfer wurden neue Strassen, zwei Viadukte, eine Staumauer und zwei Abschlussdämme gebaut. Es war das Ende des Tals, das schon Goethe 1797 in seinem Tagebuch beschrieb. Teile der Ortschaften Willerzell, Euthal, Gross und Steinbach wurden 1937 geflutet, 55 landwirtschaftliche Höfe zerstört. 1762 Menschen mussten ihre Heimat aufgeben. Viele von ihnen sahen keine Zukunft in der Schweiz und wanderten in die USA aus.
Ein ähnliches Schicksal widerfuhr den Bürgern von Marmorera GR 17 Jahre später. 1954 stellten die Zürcher Elektrizitätswerke den Marmorera-Stausee fertig, nachdem die italienisch- und rumantschsprachigen Bürger einen Vertrag auf Deutsch unterzeichnet und offenbar missverstanden hatten. Das alte Mittelbündner Dorf jedenfalls, mitsamt 29 Häusern, 52 Ställen, dem Schulhaus und der Kirche, versank daraufhin in den Fluten. Ein neues Marmorera wurde an der frisch eröffneten Julierpass-Strasse aufgebaut, doch nur wenige Menschen zogen dort ein. Zu schmerzhaft war die Erinnerung an den zerstörten Heimatort.
Gesprengt und geflutet wurde auch ein Ortsteil von Vogorno TI, als der Verzasca-Staudamm nach fünf Jahren Bauzeit 1965 fertig war. An die prächtigsten Häuser von Pioda, wie das Ristorante California oder der Gasthof mit dem Granitdach, erinnern heute nur noch vergilbte Schwarz-Weiss-Bilder.