Wegen Klimawandel
«Es wird in den Bergen mehr Sperrungen geben»

Gletscher brechen ab, Steinschläge nehmen zu und im Winter herrscht Waldbrandgefahr. Urban Maissen, Experte für Naturgefahren, erklärt, was hier gerade passiert.
Publiziert: 16.04.2023 um 00:51 Uhr
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Aktualisiert: 09.05.2023 um 14:10 Uhr
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Bitte umkehren: Wegen wiederholter Felsstürze musste das Gebiet beim Ochsenstock im Kanton Glarus 2018 gesperrt werden.
Foto: Keystone
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Camilla AlaborRedaktorin

Der Berg bewegt sich: In Brienz GR donnern Gesteinsbrocken ins Tal, im Berner Oberland musste eine SAC-Hütte wegen Felssturzgefahr schliessen, im Wallis wurde eine Seilbahn wegen Absenkungen zeitweise ausser Betrieb genommen. Herr Maissen, was ist los in den Bergen?
Urban Maissen*: Das sind einzelne Ereignisse, die vermutlich unterschiedliche Ursachen haben. Aber es gibt eine Tendenz: Die Rahmenbedingungen verändern sich. Das Klima erwärmt sich, die Mobilität nimmt zu, wir nutzen den Raum im Berggebiet intensiver. Hinzu kommt die Verletzlichkeit der heutigen Infrastruktur: Früher war man weniger auf permanente Kommunikation oder Strom aus der Steckdose angewiesen. Und dann gibt es auch einen subjektiven Aspekt.

Wie meinen Sie das?
Heute ist fast immer jemand vor Ort, der ein Ereignis filmt. Das erweckt in der Öffentlichkeit den Eindruck, dass sich Naturereignisse häufen – selbst wenn das gar nicht unbedingt der Fall ist.

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Nein?
In Graubünden hatten wir in den letzten zehn Jahren drei Grossereignisse: Die Rutschungsbeschleunigung in Brienz seit 2019, der Bergsturz beim Piz Cengalo im Jahr 2017 und die Rutschung in Val Parghera 2013. Dafür hatten wir in den letzten 20 Jahren weniger grossräumige Unwetterereignisse. Das Bild ist also nicht eindeutig, zumindest statistisch nicht. Was man aber sieht: In den höheren Lagen, im alpinen Gebiet, gibt es mehr Steinschläge und kleinere Felsstürze.

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Woran liegt das?
Zum einen ziehen sich die Gletscher zurück und hinterlassen instabile Flanken. Zum anderen taut mit der Erwärmung der Permafrost auf und die Nullgradgrenze steigt. Das führt ebenfalls zu Instabilitäten. Zudem erhöht sich damit auch das Potenzial von Murgängen: Wenn mehr Gestein den Berg runterkommt, sich im Bachbett ansammelt und es im Sommer intensiv regnet, kommt es vermehrt zu Rüfen. Das sind alles Folgen der Klimaerwärmung.

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Hängt auch der Fall Brienz mit dem Klimawandel zusammen?
Nicht direkt. Die Rutschung in Brienz entstand vermutlich nach der Eiszeit vor 10'000 Jahren. Bereits im Jahr 1870 ist eine schnellere Teilrutschung dokumentiert. Es handelt sich um eine Grosshangbewegung, die sich seit 20 Jahren beschleunigt – in den vier letzten Jahren nochmals zusätzlich.

Auch die Phasen anhaltender Trockenheit nehmen zu. Im letzten Sommer mussten die Bauern ihre Kühe früher von der Alp holen.
Die Trockenheit wird uns in Zukunft stark beschäftigen. So haben wir im Gebirge im Winter zunehmend Waldbrandgefahr. Wir bereiten uns darauf vor, indem wir unter anderem neue Löschteiche und Löschbehälter bauen.

Ist durch die häufigeren Steinschläge der Schweizer Volkssport, das Wandern, gefährdet?
Es wird mehr Sperrungen geben, davon gehe ich aus. Aber es wird auch weiterhin sichere Gebiete geben. Im alpinen Raum wird die Eigenverantwortung wichtiger: Die Leute müssen sich informieren – über Sperrgebiete, das Wetter, die Topografie – und gut ausrüsten. Mit Vernunft und Verantwortung lässt sich die Natur weiterhin geniessen.

Die vermehrten Felsstürze bedrohen auch Zugstrecken und Strassen. Braucht es neue Überbauungen, um die Verkehrsinfrastruktur zu schützen?
Anders als Siedlungen führen Zugschienen und Strassen gezwungenermassen an steilen Hängen und an Flüssen entlang. Von daher ist die Exposition gegenüber Gefahren grösser. Oftmals machen Schutzmassnahmen wie Lawinen- oder Steinschlagverbauungen Sinn. Aber es gibt Fälle, in denen das nicht möglich ist: aus technischen Gründen, oder weil es nicht wirtschaftlich ist. Dann geht es darum, zu kommunizieren, dass eine Gefahr besteht – zum Beispiel mittels Sperrung.

* Urban Maissen (57) ist studierter Forstingenieur und seit zwei Jahren Leiter Amt für Wald und Naturgefahren in Graubünden.

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