St. Moritzer Gemeindepräsident kontert Corona-Kritik
«Die Kommentare aus Zürich gehen mir auf den Sack»

Corona-Fälle in den Luxushotels Badrutt’s Palace und Kempinski brachten den Kurort in die Schlagzeilen. Gemeindepräsident Christian Jott Jenny wehrt sich – und hat einen Vorschlag für die Kultur.
Publiziert: 24.01.2021 um 09:55 Uhr
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Aktualisiert: 24.01.2021 um 15:52 Uhr
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Christian Jott Jenny (43) ist Gründer des Festival da Jazz und seit 2019 Gemeindepräsident von St. Moritz.
Foto: fotoswiss.com/cattaneo
Interview: Reza Rafi

Sie haben eine turbulente Woche hinter sich ...
Christian Jott Jenny:
Als ich am Sonntagabend durch ein Tele­fonat von Regierungsrat Peter Peyer von den Ansteckungen ­erfuhr, wusste ich, dass da etwas auf uns zukommt.

Ein Corona-Ausbruch in zwei Hotels, eines davon das ­berühmteste Haus des Ortes.
Die beiden Marken St.Moritz und Badrutt’s Palace werden ­zusammen zum Molotowcocktail. In Teilen Asiens ist das ­Badrutt’s Palace genauso bekannt wie St.Moritz. Wenn es dem einen nicht gut geht, geht es dem anderen auch nicht gut. Dann ging es darum, dass die Leute an den Massentests teilnehmen, deren Resultat – ein Prozent sind positiv – hoch erfreulich ist. Die Menschen wussten offenbar, dass sie mit der ­Teilnahme einen Beitrag leisten können.

Das Krisenmanagement hat also funktioniert?
Als Bühnenkünstler weiss ich: Wenn um acht Uhr der Vorhang aufgeht, musst du liefern. Erst wenn die Kacke am Dampfen ist, kann ich meine Hyperaktivität auf normal runterschrauben und sehr klar denken. Das hilft. Und glücklicherweise verfügen wir über einen Führungsstab, der das alles sehr gut abgewickelt hat.

Aber die Negativschlagzeilen dominieren.
Manchmal denke ich, wie es ­gewesen wäre, wenn das in ­Zurzach oder Trüllikon passiert wäre. St.Moritz ist wie der ­Riese Tur Tur bei Jim Knopf von ­Michael Ende: Je weiter weg du bist, desto grösser wirkt er, je ­näher du kommst, desto kleiner. Stehst du mittendrin, ist St.Moritz ein Kaff wie Zurzach oder Eglisau. In Japan hingegen habe ich erlebt, dass der St.Moritzer Gemeindepräsident mehr Aufmerksamkeit erhält als der Schweizer Botschafter.

Der Bundesrat schliesst Kleider­läden und Sportzentren, Skigebiete bleiben offen. Verstehen Sie, dass das in Teilen der Bevölkerung, ­gerade im Unterland, schlecht ankommt?
Die Kommen­tare aus Zürich gehen mir grundsätzlich auf den Sack. Auch der Zürcher Regierungsrat – der ja eine hervor­ragende Falle macht – hat ge­fordert, die Pisten zu schliessen. Wie wenn wir fordern würden, die Bahnhofstrasse zu schliessen. Gewisse ­Situationen kann man vor Ort besser abschätzen als vom Zürcher Schreibtisch aus. Wir sagen Zürich auch nicht, wie sie den Schnee räumen sollen. Obwohl St.Moritz diesen Auftrag künftig gerne übernehmen würde, falls Not am Mann ist.

Drei bekannte Fälle von Massenansteckungen – ­Verbier, Wengen, St. Moritz – ereigneten sich nun mal in Bergdestinationen.
Bei uns hatten die Skigebiete nichts mit den Infektionen zu tun, sondern Pausen, gemein­sames Essen, Freizeit und in ­einigen ­Fällen gemeinsame Personal­wohnungen. Natürlich: Wenn man todsicher gehen will, muss man alles herunterfahren.

Also doch die Pisten schliessen?
Ich bin geteilter Meinung. Kürzlich stand ich in einer vollen Bahn auf den Muottas Muragl und dachte: Muss das wirklich sein? Aber du kannst auf dem Skigebiet auch alleine sein, wenn du willst, du kannst an ­einen Bügellift oder auf einen ­alten Sessellift hocken wie einst Peter Alexander. Im Zweifel bin ich der Meinung, dass es nicht das Dümmste ist, den Leuten das zu ermöglichen.

Das können Sie jetzt so sagen.
Wir schliessen die Menschen bald schon ein Jahr ein. Die Leute haben keine Kultur zur Ver­fügung. Sie haben alle Netflix­serien und Erotikfilmchen schon gesehen. Sie haben sämtliche Bücher gelesen und waren schon sieben Mal auf dem Uetliberg – der nebenbei tatsächlich ein ­Corona-Hotspot ist! Die Leute brauchen frische Luft, sonst ­drehen sie durch.

Was meinen Sie eigentlich mit der Überreaktion der ­Politik, vor der Sie warnen?
Ich animiere nur dazu, sich ­immer wieder die Frage zu ­stellen, ob etwas noch verhältnismässig ist oder nicht. Wir dürfen nicht aufhören, uns diese Frage zu stellen. Ich sage das als jemand, der ­familiär sehr nahe am Gesundheitswesen ist, der selber Co­rona hatte, der Leute kennt, die daran gestorben sind und der Eltern in der Risikogruppe hat.

Wie kommen denn die Edikte aus Bern bei Ihnen an?
Es ist nicht an mir, die bundesrätlichen Entscheide zu bewerten. Ich bin jedenfalls froh, dass es ein Gremium gibt, das die ­Verantwortung auf sich nimmt. Natürlich finde ich nicht jede Entscheidung nachvollziehbar. Und am Schluss des Tages weiss doch gar niemand mehr etwas.

Weshalb es Fachleute gibt.
Das sieht man doch gerade bei den Experten – einem Begriff ­übrigens, der die letzten zwölf Monate zum schlimmsten Unwort geworden ist. Interessant ist dieses Kommen und Gehen bei den Virologen und Epidemiologen, die zuvor ja kaum je ein Mikrofon vor der Nase hatten. Marcel Salathé zum Beispiel ist plötzlich von der Erdoberfläche verschwunden, nachdem er in einem Interview gesagt hatte, es sehe gerade wirklich sehr gut aus. Da merkt man, dass das auch nur Menschen sind, das ­finde ich sympathisch. Ich bin aber Candide-mässig unterwegs, ich gehe immer von der besten aller möglichen Welten aus. Ich will niemandem unterstellen, ­etwas Schlechtes zu wollen.

Als Mann der Kultur muss ­Ihnen derzeit das Herz bluten.
Ich will nicht Sport und Kultur gegeneinander ausspielen. Aber Kultur zieht mehr Massen an als der Sport. Das ist statistisch ­erwiesen.

Wird der Sport überbewertet?
Nein, aber dem Sport muss man gratulieren: Er hat in Bern die viel grössere Lobby. Die Kultur gilt immer als «nice to have». Sie hat gegenüber der Politik keinen Hebel. Nehmen Sie die Bauern, die können drohen: Wir liefern keine Milch mehr, wenn ihr nicht bezahlt. Wenn Musiker oder Schauspieler sagen «Wir spielen nicht mehr», dann heisst es: «Prima, dann kostet es nicht mehr so viel.» Den Hebel der Erpressung, wenn man es so bezeichnen will, gibt es in der Kultur nicht.

Was ist Ihre Lösung?
Die Gewerkschaften von Gastronomie und Hotellerie müssten sich mit der Kultur zusammenschliessen. Das gehört zusammen. Die Kultur gibt den Leuten einen Grund, in die Stadt zu gehen und dort zu essen. Der Grill beim Zürcher Bellevue verkauft ohne Kultur nicht die Hälfte seiner Ware. Die Leute kommen nicht wegen der Wurst in die Stadt, sondern wegen Opernhaus, Schauspielhaus, Kleintheater, Konzerten und so weiter. Das sind 5000 Leute pro Tag. Essen, Hotel und Kultur sind ein Kreislauf.

Wirte als Kulturschaffende?
Die Wirte haben mit Casimir Platzer wenigsten einen Lobbyisten in Bern! Einen Mister oder eine Miss Kultur gibt es nicht. Das rächt sich jetzt.

Seit bald drei Jahren sind Sie im Amt. Treten Sie 2022 wieder an?
Wenn ich das Gefühl habe, weitere vier Jahre etwas bewegen zu können, stelle ich mich zur Verfügung.

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