Die Schweizer Neutralität beginnt mit einem gebrochenen Versprechen. Vor 350 Jahren marschiert die französische Armee in die Freigrafschaft Burgund ein. Diese hat keine Chance – auch weil die Eidgenossenschaft sie im Stich lässt. Letztere hat sich zuvor dazu verpflichtet, die Burgunder bei einem Angriff mit Schutztruppen zu verteidigen. Und zieht sich nun aus der Affäre. 1674 erklärt die Eidgenossenschaft zum ersten Mal offiziell: «(...) dass wir uns als ein Neutral Standt halten und wohl versorgen wollen!» Damit fängt alles an – nicht 1515 mit der Schlacht bei Marignano, wie später behauptet wird.
Lange fährt die Schweiz gut damit. Am Wiener Kongress 1815 gestehen die europäischen Grossmächte ihr «immerwährende und bewaffnete Neutralität» zu. 1907 kommen durch das Haager Abkommen noch Pflichten dazu: Neutrale Staaten sollen nicht an Kriegen teilnehmen, alle Kriegsparteien im Hinblick auf den Export von Rüstungsgütern gleich behandeln und ihr Staatsgebiet keinen Kriegsparteien zur Verfügung stellen. Damit hat es sich.
Neutralität als Frage der Definition
Alles darüber hinaus – auch das, worüber wir heute diskutieren – ist politischer Wille. Wie der Geschichtsprofessor Sacha Zala (53) es gegenüber CH Media festhält: «Die Schweiz hat aus der Neutralität eine identitätspolitische Frage gemacht, die ein Eigenleben entwickelt hat.»
Das heisst: Die Definition von Neutralität ändert sich immer wieder. 1945 sagt Bundespräsident Eduard von Steiger (1881–1962) in seiner Radioansprache: Die Schweiz habe «ihre seit Jahrhunderten bewährte und behauptete Neutralitätspolitik auch in diesem Kriege» verfolgt und sei «von den Schrecken des Krieges verschont geblieben». Fakt ist: Sie verdankt ihre Freiheit auch den Geschäften mit Nazideutschland und vor allem dem Sieg der Alliierten.
Diese Geschäfte werden ihr in den Neunzigern zum Verhängnis: mit der Nazigold-Affäre. Die Welt ist schockiert. US-Staatssekretär Stuart Eizenstat (79) sagt 1997: «Zu oft stellte die Neutralität eine Entschuldigung dafür dar, moralische Überlegungen zu vermeiden.»
Kurswechsel: Hin zu «aktiver Neutralität»
Micheline Calmy-Rey (76) erhört ihn, unternimmt als Aussenministerin in den Nullerjahren einen Kurswechsel. Mit ihrer «aktiven Neutralitätspolitik», die bedeutet: Das Land soll sich weltweit aktiv bemühen, Konflikte zu verhindern oder zu schlichten. 2003 überschreitet sie deshalb als erste offizielle ausländische Regierungsvertreterin die Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea und diskutiert in Pjöngjang mit dem nordkoreanischen Regime. Die Übernahme der Sanktionen gegen Russland steht in dieser Tradition.