Christoph Blocher versucht, eine bizarre Debatte über die Neutralität anzuzetteln. Der SVP-Patriarch stört sich an den Schweizer Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Er liebäugelt deshalb mit einer Volksinitiative, um die Neutralität, wie er sie versteht, in der Verfassung zu verankern. Es ist die gleiche skrupellose Pseudoneutralität, die Schweizer Firmen einst Geschäfte mit dem Apartheidsystem in Südafrika machen liess.
Als die Gründer der modernen Schweiz vor bald 175 Jahren die Bundesverfassung zu Papier brachten, schrieben sie: «Der Bund hat zum Zweck: Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes gegen aussen, Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern, Schutz der Freiheit und der Rechte der Eidgenossen und Beförderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt.» Was in der Aufzählung nicht vorkommt, ist der Begriff Neutralität. Das geschah mit Absicht: Denn, so heisst es in den Verhandlungsprotokollen von damals, «die Neutralität sei ein Mittel zum Zweck; sie sei eine irgendwann angemessen erscheinende politische Massregel, um die Unabhängigkeit der Schweiz zu sichern».
Christoph Blocher hält die Neutralität für einen wirtschaftlichen Wettbewerbsvorteil – dabei wird dieser Vorteil in der heutigen Welt glücklicherweise nicht mehr goutiert, er verkommt damit zum Nachteil. Von ihrem ursprünglichen Konzept her ist die Neutralität aber bloss ein Nebenschauplatz, ein mögliches Hilfsmittel zur Sicherung unserer Unabhängigkeit. Über diese Unabhängigkeit allerdings sollten wir angesichts von Putins Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine in der Tat nachdenken.
International steht derzeit vor allem die fatale Abhängigkeit Westeuropas von russischen Rohstoffen im Vordergrund. Die Schweiz befindet sich zwar nicht so sehr an Putins Tropf wie etwa Deutschland. Doch auch bei uns stammt fast die Hälfte des verfeuerten Gases aus Russland. In den Wintermonaten sind wir ausserdem auf Elektrizität aus deutschen Kraftwerken angewiesen, die solches Gas verstromen. Beim Öl wiederum heissen zwei unserer Grosslieferanten Libyen und Kasachstan: Ein gescheiterter Staat ohne Rechte oder Sicherheit für seine Bewohner und eine Diktatur von Moskaus Gnaden.
Im letzten Juni lehnte eine knappe Mehrheit der Stimmenden das neue CO2-Gesetz ab. Ziel der Vorlage war die rasche Senkung des Kohlendioxid-Ausstosses sowie der grosszügige Ausbau speziell von Sonnen- und Windenergie. Es ging um Klimaschutz, aber eben auch darum, die Schweiz rasch aus ihren fossilen Fesseln zu lösen. Die SVP kämpfte mit einer gleichermassen teuren wie raffinierten Kampagne für ein Nein. Unter anderem warnte sie vor höheren Benzinpreisen – täglich bekamen 300'000 Autofahrende diese Werbung direkt auf dem Display ihres DAB+-Autoradios angezeigt.
Natürlich wäre es zu viel verlangt, dass die Bezwinger des CO2-Gesetzes jetzt in ihre Heizkeller hinuntersteigen, um sich dort wenigstens ein klein wenig zu schämen. Dass sie heute aber gleich das Gefühl haben, mit einer Volksinitiative zur Neutralität auftrumpfen zu müssen? Das ist nun wirklich genau das, was es ganz bestimmt nicht braucht.
Immerhin und trotz des Neins zum CO2-Gesetz: Die Schweiz verzeichnet derzeit einen kleinen Boom der erneuerbaren Energien. 2021 wurden so viele Wärmepumpen und so viele Pelletheizungen installiert wie nie zuvor. Einen noch grösseren Zuwachs erlebt die Fotovoltaik. Allein im Februar dieses Jahres wurden
auf Dächern und Fassaden 200'000 Solarmodule verbaut, das entspricht einer Fläche von 45 Fussballfeldern.
Mit Putins Krieg und den steigenden Rohstoffpreisen wird sich diese Entwicklung beschleunigen. Freilich wird der Energieverbrauch hierzulande noch immer zu mehr als 60 Prozent aus fossilen Quellen gedeckt. Die Politik kommt nicht umhin, bei der Förderung der Erneuerbaren ein paar Gänge höher zu schalten.
Damit das schnellstmöglich gelingt, benötigt es den Effort aller politischen Akteure. Selbstverständlich auch der SVP.