Es ist Dienstagabend im Kreis 6 in Zürich. Artur (46) sitzt vor seinem Geschäft und raucht. Er bittet herein. «Setz dich, Sylvia kommt gleich. Ich mach noch kurz die Schuhe fertig.» Er verschwindet hinter dem Tresen, an seine Werkbank, die umgeben ist von allerlei Werkzeug, Lederresten, Schrauben, Schlüssel. Das Radio läuft, die Ausputzmaschine rattert. Als nach ein paar Minuten plötzlich die Glocke der Ladentüre klingelt, wird es turbulent. Ein Husky hechelt herein, im Schlepptau zwei blonde Mädchen. Als Letzte betritt Sylvia (50) den Laden. «Hallo!», sagt sie. Dann: «Luna, Tilia, Majalis» und zeigt nacheinander erst auf den Hund, dann auf die beiden Mädchen, ihre Töchter.
Dass die fünf an diesem Tag gemeinsam in dem Geschäft stehen können, ist laut Sylvia dem Schicksal zu verdanken. So viel soll verraten sein: Es geht um Liebe auf den ersten Blick, Gemeinschaft und eine grosse Leidenschaft.
Ein Akkordeon, ein Invalidenroller, Ski, Handtaschen, Fahrräder, Autolichter, ein Paar Ohrringe, Schuhe, Toaster, Geldbeutel. Diese Gegenstände haben eines gemeinsam: Artur kann sie alle reparieren. Seine Mission ist es, ein Stück von der Welt zu retten. Deswegen hat er seine Werkstatt eröffnet. Mit seinem Vorhaben schwimmt er gegen den Strom unserer Wegwerfgesellschaft. 716 Kilogramm Abfall produziert jeder Schweizer und jede Schweizerin durchschnittlich pro Jahr, so ein Bericht der Casafair. Wie passt Arturs und Sylvias Konzept dazu?
Geboren und aufgewachsen ist der 46-Jährige in Eriwan, Armenien. Seine Kindheit verbrachte er in der Garagenwerkstatt seines Vaters, einem Mechaniker. «Mein Vater ist ein Meisterreparateur», erzählt Artur. In seiner Heimat konnte man es sich nicht leisten, Dinge wegzuschmeissen. Ein neues Velo? Unbezahlbar. Man war darauf angewiesen, die Dinge zu reparieren. Artur fängt früh an zu tüfteln. «Ich liebe es, neue Sachen aufzuschrauben, zu schauen, wie sie funktionieren, und dann alles wieder zusammenzuschrauben.» Mit zwölf baute er sein erstes Gerät: eine Zuckerwattemaschine, gebastelt aus dem alten Motor einer Waschmaschine, Draht, einer Metallplatte und dem Fusspedal einer Nähmaschine. «Die Zuckerwatte habe ich dann auf der Strasse verkauft, um mir neues Werkzeug zuzulegen.»
Zufallsbegegnung in Wien
Ende der 90er-Jahre, mit Anfang 20, verlässt er seine Heimat. «Es war eine komische Zeit in Armenien, immer kurz vor dem Krieg, dann doch wieder nicht. Viele Stromausfälle. Für einen jungen Menschen gab es nichts.» Nach einigen Stationen in Europa kam er schliesslich nach Österreich. Dort wendete er seine Fähigkeiten für Schuhmacher und Schlüsseldienste an, heiratete, bekam zwei Kinder und liess sich scheiden. Vor rund vier Jahren begegnete er dann Sylvia in Wien.
Sylvia, die Amerikanerin mit österreichischen Wurzeln, wuchs im kalifornischen Monterey auf. Vor 18 Jahren zog sie dann in die Schweiz, wo sie in Zug an der internationalen Schule als Sprachlehrerin arbeitete. Auch sie heiratete, bekam drei Töchter und liess sich wieder scheiden. Als sie vor vier Jahren ihre Mutter in Wien besuchte, verlor diese ihren Schlüssel. «Ich habe dann den Schlüsseldienst gerufen. Da kam Artur, und ich fand ihn gleich toll.» Sie schob ihm ihre Handynummer unter. «Später habe ich ihn dann noch mal unter einem Vorwand bestellt», gesteht sie. Artur kam – und das eine führte zum anderen. Vor zwei Jahren heirateten die beiden.
Artur zieht zu Sylvia nach Zürich. Doch der Anfang ist schwer, er findet keine Arbeit. Schuhmacher wollen ihn nicht einstellen, trotz seines Talents und der Arbeitserfahrung. Denn: Er hat keine klassische Ausbildung, kann kein Diplom vorweisen. Schliesslich bekommt er einen Job bei einem orthopädischen Schuhmacher, verliert ihn aber kurze Zeit später aufgrund der Pandemie. Doch die beiden lassen sich nicht unterkriegen. Stattdessen beschliessen sie, etwas zu wagen. Im Herzen des Zürcher Kreises 6 eröffnen sie im März 2021 Arturs Werkstatt.
«Woher hast du denn die Lichterkette?», fragt Sylvia. «Hat vorhin ein Nachbar vorbeigebracht», so Artur. Neben ihren kaputten Gegenständen bringen Nachbarn manchmal Gipfeli vorbei oder einen armenischen Wein für Artur. Viele der Werkzeuge sind ein Geschenk eines ehemaligen Architekten aus der Nachbarschaft. Quartiergemeinschaft eben, Geben und Nehmen. «Die Vermieterin hat uns Starkstrom installiert und Kulanz bei der Miete gewährt, denn sie findet unser Konzept toll», erzählt Sylvia. «Eltern der Kinder aus dem Quartier fragen sogar, ob sie ihre Kleinen am nächsten Tag der Zukunft zum Schnuppern bringen können.» Die dreifache Mutter kümmert sich im Geschäft um die Buchhaltung und den Service. «Ich bin fürs Sprechen zuständig, und Artur arbeitet hinter den Kulissen», sagt sie lachend. Oder wie Artur es formuliert: «Sylvia ist meine rechte Hand.»
Es ist Mittwochnachmittag, Sylvia und Artur sind beide im Geschäft. Eine junge Frau holt ihre genähte Tasche ab, eine andere ihre Schuhe. Ein Mann und sein Sohn bringen eine Geldkassette vorbei, die sich nicht mehr öffnen lässt. Was drin ist, wissen sie nicht. «Kommt in zwei Stunden wieder», sagt Artur. Er wird sie aufkriegen, da ist er sich sicher. «Hinter vielen der Gegenstände, die Artur repariert, stecken besondere Geschichten», so Sylvia. Sie erzählt von dem Mädchen, das das geliebte Radio ihrer Grosi vorbeibringt, oder von dem völlig zerfledderten Kunststoffgeldbeutel eines älteren Herren, der ihn unbedingt reparieren lassen wollte, obwohl er überhaupt keinen monetären Wert hatte. «Der Aufwand war riesig. Ich musste ihn komplett nähen und mit Plastik überziehen.» Doch es lohnt sich. Der Mann soll beim Abholen gestrahlt haben. «Es macht mir solche Freude, wenn Kunden mit ihrem reparierten Gegenstand glücklich sind», sagt Artur. Dafür steht er sechs Tage die Woche für zwölf Stunden in seiner Werkstatt. Oft auch sonntags. Die viele Arbeit stört ihn nicht. Im Gegenteil. «Ich habe in der Werkstatt alles, was ich brauche.» Artur hat seinen Platz gefunden.