Schweizer Gesundheitssystem in der Krise
Patienten landen in Psychiatrie, weil Notfall überlastet ist

Das Schweizer Gesundheitswesen steckt in der Krise – auch die Psychiatrien sind betroffen. Notfall-Patienten werden von überlasteten Spitälern auf Psychiatrien abgewälzt. Wegen langer Wartezeiten erkranken Menschen chronisch. Und es mangelt an Angeboten für Jugendliche.
Publiziert: 28.12.2022 um 00:35 Uhr
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Aktualisiert: 29.12.2022 um 12:58 Uhr
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Vielen Kindern und Jugendlichen geht es psychisch nicht gut – doch Hilfe ist schwer zu bekommen.
Foto: Getty Images

Das Schweizer Gesundheitssystem steht auf wackligen Beinen: fehlende Pflegekräfte, zu wenig Betten, immer mehr Kranke, permanente Überbelastung im Notfall. Und das zieht einen Rattenschwanz hinter sich her. Als Folge sind auch medizinische Einrichtungen betroffen, die sich um die mentale Gesundheit kümmern.

«Auch wir sind natürlich vom Fachkräftemangel betroffen, in erster Linie in der Pflege», sagt Marc Stutz, Mediensprecher der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. «So können Stellen oft weniger schnell besetzt werden.»

Fehlende Medis führen zu mehr psychischen Rückfällen

Nebst dem Fachkräftemangel hat die Spital-Krise auch direkte Folgen: Patienten werden schnellstmöglich aus Spitälern an psychiatrische Institutionen weitergereicht, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt sind – etwa Drogenmissbrauch oder Suizidversuche. «Da die Notaufnahmen in den Spitälern oft überlastet sind, werden die Patienten schnell an andere Strukturen weitergegeben», sagt Klinikleiter Lorenzo Folini (35) von der Privatklinik Santa Croce in Orselina TI, «Opfer von Drogenmissbrauch etwa landen grundsätzlich bei uns in der Psychiatrie.»

Auch fehlende Medikamente führen zu mehr Klinikaufenthalten. «Es gibt Patienten, die wegen fehlender Verfügbarkeit eines bestimmten Medikaments in einer psychiatrischen Einrichtung hospitalisiert werden müssen», erklärt Jochen Mutschler, Chefarzt Stationäre Dienste in der Luzerner Psychiatrie. So fehlt es beispielsweise an Antabus – ein Medikament, um Rückfälle bei Alkoholmissbrauch zu verhindern.

Lange Wartezeiten für ambulante Therapien

«Wir spüren, dass in unseren drei Kliniken der Aufnahmedruck zunimmt», sagt Mutschler. Die Anzahl Erkrankter steige. «Ein Punkt ist die Entstigmatisierung der verschiedenen psychischen Erkrankungen, was zu einer erhöhten Nachfrage führt. Zweitens ist das Bevölkerungswachstum auch bei uns spürbar, und drittens sind weltweit mehr Depressionen und Angsterkrankungen seit Corona zu verzeichnen. Wir sprechen von einem Anstieg um 25 Prozent.» Die Folge: «Wir haben eine starke Nachfrage nach ambulanten Therapien und sind zugleich auch stationär gut ausgelastet.»

Für ambulante Therapieangebote müssen Betroffene manchmal weit suchen, bis sie einen Therapeuten finden. In der Innerschweiz gibt es laut Mutschler teilweise so lange Wartezeiten für ambulante Patienten, dass ihre Krankheit zwischenzeitlich sogar chronisch wird. Immerhin: «Akutpatienten, von denen eine Fremd- oder Eigengefährdung ausging, mussten wir noch nie abweisen.»

Es fehlen Plätze für Kinder und Jugendliche

Fehlende Betten sind derzeit aber noch kein Problem in der Schweiz, sagt Erich Seifritz, Präsident vom Verband Swiss Mental Healthcare. «Die Schweiz hat die höchste Dichte an Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie und verfügt über eine hervorragende Versorgungssituation für psychische Erkrankungen.»

Dennoch gebe es Bereiche, in denen die Versorgung psychischer Erkrankungen verbessert werden sollte, sagt Seifritz. «Das betrifft generell ländliche Regionen, Kinder und Jugendliche sowie Patienten mit schweren komplexen psychischen Erkrankungen.» Im Bereich Kinder und Jugendliche werden derzeit mehr stationäre Kapazitäten geschaffen.

«Die weniger schweren Fälle mussten lange warten»

Alain Di Gallo, Chefarzt für Kinder und Jugendliche der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, sagt zu Blick: «Suizidgedanken bei Jugendlichen haben in der Pandemie zugenommen.» Als Folge hätten seit 2020 auch die Nachfragen nach psychiatrischen Angeboten massiv zugenommen. «In der ganzen Schweiz konnten wir nur noch Notfälle sowie Kinder und Jugendliche in schweren Krisen sofort behandeln. Die weniger schweren Fälle mussten lange warten. Diese Unterversorgung war vor der Pandemie schon bekannt, aber sie hat sich nun verschärft.»

Immerhin: Einzelne Kantone haben Geld gesprochen für Kinder und Jugendliche. «Zum Teil konnten wir mehr Angebote schaffen, und einige Kliniken haben moderat Personal erhöht. Aber nach wie vor nehmen viele Praxen keine neuen Patienten auf, was zu einem anhaltenden Ansturm führt.»

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