Rötsigraben-Experte Pierre Ruetschi erklärt
Darum dürfen Palästina-Aktivisten in der Romandie die Unis lahmlegen

In der ETH Zürich beendete die Polizei ruckzuck die unbewilligten Anti-Israel-Proteste. Ganz anders ennet dem Röstigraben: Trotz Deadline lehnen die Unis in Lausanne und Genf einen Polizeieinsatz ab. Romandie-Kenner Pierre Ruetschi erklärt.
Publiziert: 08.05.2024 um 20:38 Uhr
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Aktualisiert: 08.05.2024 um 20:44 Uhr
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Röstigraben-Experte Pierre Ruetschi erklärt, warum die Palästina-Proteste in der Westschweiz anders als in der Deutschschweiz gehandhabt werden.
Foto: zVg
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Beat MichelReporter

Seit Donnerstag besetzen Pro-Palästina-Aktivisten die Universität Lausanne. Seit Dienstag toben die Proteste auch in der Uni Genf. Die Deadlines der Hochschulleitung, um die Proteste zu beenden, liessen die Demonstranten unbeachtet verstreichen. Zuletzt am Dienstag Abend um 22.30 Uhr. Aus der ganzen Schweiz reisen weitere Aktivisten an. Im Gegensatz zu den Unis in der Deutschschweiz setzen die Romands nicht auf einen Einsatz der Ordnungskräfte, sondern auf Verhandlungen. «Das hat Tradition», sagt Westschweiz-Kenner Pierre Ruetschi (65). «Es ist kein Zufall, dass die Proteste geduldet werden. Es gibt auch hier den Röstigraben», erklärt der ehemalige Chefredaktor der Zeitung «Tribune de Genève» und Experte in der SRF-Sendung «Bonjour les Welsches».

«Die Uni Lausanne hat eine lange Tradition als intellektuelles Zentrum des Marxismus in der Schweiz. Auch mehrere Professoren engagieren sich in der Frage auf der linken Seite des politischen Spektrums», sagt Pierre Ruetschi zu Blick. «Hier wird die Ideologie der antiliberalen Wirtschaft gepflegt. An der Uni Lausanne gehören politische Proteste zur Kultur. Der Verzicht auf eine Polizeiintervention ist darum nur logisch. Auch Professoren stehen zu 100 Prozent hinter der Aktion gegen Gewalt in Palästina.»

Klima der Toleranz

Als Beispiel für die Kultur der Waadtländer Uni nennt Ruetschi Ökonomie-Professorin Julia Steinberger, die 2022 als Klimakleberin für Schlagzeilen sorgte. «Sie kam damit durch, das hätte eine Deutschschweizer Uni wohl nicht toleriert», sagt der Ex-Chefredaktor.

Der Röstigraben zeige sich deutlich im Umgang mit einer unbewilligten Demo: «In der Deutschschweiz hat die Bevölkerung viel mehr Respekt vor Autoritäten und der Durchsetzung von Regeln und Ordnung. Bei uns sind Proteste, der Dialog und die Diskussion fester Bestandteil in der Kultur. Dabei steht die Vermeidung von Gewalt ganz oben auf der Prioritätenliste.»

Einfluss aus Frankreich

Zusätzlich sieht der Experte in Genf die Nähe zu Frankreich als tragendes Element von Protestaktionen an Unis. «In Frankreich gehört Protest praktisch zum Alltagsleben. So auch in Genf, wo sogar eine sozialdemokratische Regierungsrätin kürzlich verlangte, dass man in Genf nicht jedes Wochenende auf die Strasse gehen soll. Dazu werden täglich Demos zu internationalen Themen vor der UNO organisiert», sagt er. Und weiter: «So wie in Frankreich ist das alles Teil der Kultur im Welschen. Und Franzosen sind auch die meisten ausländischen Studenten an den Westschweizer Hochschulen. Das beeinflusst die Kultur in der Romandie.».

Doch auch in der Romandie kann die Uni-Blockade nicht grenzenlos weitergehen. Ruetschi: «Es beteiligen sich immer mehr Demonstranten, die mit Unis nichts zu tun haben. Es besteht die Gefahr, dass die Situation eskaliert und die Studentenproteste von extremen Gruppen als Plattform ausgenutzt werden. Das wollen auch die welschen Unis nicht.»

Ende ist noch offen

Wie lange die Protestierenden noch in den welschen Hochschulen bleiben können, ist offen. Die Universität Lausanne sagte gegenüber Blick nur, dass vorläufig weiter verhandelt wird. Und dass die Leitung die Besetzung ihrer Gebäude durch pro-palästinensische Studentinnen und Studenten nicht länger duldet. Diese wurden abermals aufgefordert, die Räumlichkeiten zu verlassen.

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