Frau Famos, Sie sind gerade eine gefragte Frau.
Rita Famos: Wahnsinn, ja. Ich bin überrascht, wie gross das mediale Interesse ist.
Das hat sicher auch damit zu tun, dass Sie die erste Frau an der Spitze einer Landeskirche sind. Was bedeutet das für Sie?
Es freut mich sehr, dass wir das geschafft haben. Ich bin ja die Erbin von so vielen Frauen, die über viele Jahre auf diesen Tag hingearbeitet haben.
Mit Rosa Gutknecht (1885–1959) und Elise Pfister (1886–1944) war die Zürcher Landeskirche 1918 die erste in ganz Europa, die Frauen zu Pfarrerinnen ordinierte.
Das war ein Kampf, und am Anfang durften diese Frauen noch nicht einmal als Pfarrerinnen arbeiten, also nicht auf die Kanzel. In Zürich wollte das der Staat nicht.
Rita Famos (54) ist die Personifikation der Reformierten: total bescheiden. Sie sei eine unaufgeregte, emanzipierte Frau, sagt sie. Und doch kämpfte sie sich überall als einzige Frau durch: zuerst als Pfarrerin in einem Pfarrkapitel, dann im Leitungsteam der Zürcher Kirche. Und schon bei den Wahlen 2018 forderte sie als Einzige ihren Vorgänger Gottfried Locher heraus – sie verlor zwar, erreichte aber mit einem Drittel der Stimmen einen Achtungserfolg. Aufgewachsen ist Rita Famos in Utzenstorf BE, sie hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in Uster ZH.
Rita Famos (54) ist die Personifikation der Reformierten: total bescheiden. Sie sei eine unaufgeregte, emanzipierte Frau, sagt sie. Und doch kämpfte sie sich überall als einzige Frau durch: zuerst als Pfarrerin in einem Pfarrkapitel, dann im Leitungsteam der Zürcher Kirche. Und schon bei den Wahlen 2018 forderte sie als Einzige ihren Vorgänger Gottfried Locher heraus – sie verlor zwar, erreichte aber mit einem Drittel der Stimmen einen Achtungserfolg. Aufgewachsen ist Rita Famos in Utzenstorf BE, sie hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in Uster ZH.
Hatten Sie als Frau mit Hindernissen zu kämpfen?
Klar. Ich war in einigen Gremien die einzige Frau in einem Männerteam. Der Klassiker war: Du bringst eine Idee vor, und sie wird nicht zur Kenntnis genommen. In der nächsten Sitzung hat der Kollege eine «geniale Idee» – und es sind deine Gedanken der letzten Sitzung. Oder nehmen wir die Berichterstattung dieser Woche.
Sie wurden als erste Frau an der Spitze gefeiert.
Nicht nur. In der «NZZ» stand, ich würde nie die Schlagkraft haben wie ein Gottfried Locher. Im Text suggerierte der Journalist: Die sagt dann nichts, ohne es mit allen abgesprochen zu haben. Bei einem Mann hätte er das nicht geschrieben.
Ärgert Sie das?
Es nervt mich. Man sollte zuerst meinen Amtsantritt abwarten, bevor man urteilt.
Was für eine Präsidentin wollen Sie sein?
Ich will keine Solistin sein, die ständig den Auftritt sucht. Ich will kollegial mit den anderen Mitgliedern der Kirchenleitung zusammenarbeiten. Und ich will authentisch sein, zu meiner Meinung stehen, konstruktiv kritisieren und Änderungen anregen. Das ist mein Stil. Und ich will Zuversicht ausstrahlen, die Stimmung ist gerade düster.
Mehrere Frauen haben gegen Ihren Vorgänger Gottfried Locher schwere Vorwürfe erhoben, es ging um Grenzverletzungen. Hat die reformierte Kirche zu wenig hingeschaut?
Wir Reformierten hatten irgendwie das Gefühl, bei uns passiere das nicht. Ich selbst war überrascht, als ich von den Vorwürfen erfuhr. Aber seien wir ehrlich: Das ist naiv, es kann überall passieren. Auch an der Basis, in der Seelsorge, in der Jugendarbeit.
Im Mai trat Rita Famos' Vorgänger, Gottfried Locher (54), zurück. Dies wegen massiver Vorwürfe: Locher soll seine Macht missbraucht und psychische und sexuelle «Grenzverletzungen» gegenüber Frauen begangen haben. Die Evangelisch-Reformierte Kirche (EKS) wollte die Vorwürfe zuerst nur intern klären. Erst nachdem mehrere Kantonalkirchen Druck machten, kündigte man eine externe Untersuchung an. Ende Jahr soll der Bericht der beauftragten Anwaltskanzlei vorliegen. Für Locher gilt die Unschuldsvermutung.
Im Mai trat Rita Famos' Vorgänger, Gottfried Locher (54), zurück. Dies wegen massiver Vorwürfe: Locher soll seine Macht missbraucht und psychische und sexuelle «Grenzverletzungen» gegenüber Frauen begangen haben. Die Evangelisch-Reformierte Kirche (EKS) wollte die Vorwürfe zuerst nur intern klären. Erst nachdem mehrere Kantonalkirchen Druck machten, kündigte man eine externe Untersuchung an. Ende Jahr soll der Bericht der beauftragten Anwaltskanzlei vorliegen. Für Locher gilt die Unschuldsvermutung.
Wie reagiert die Kirche nun darauf?
Wir haben eine Meldestelle eingerichtet, an die sich Betroffene anonym wenden können. Eine Untersuchung arbeitet die Vorwürfe auf. Und die einzelnen Kirchen erarbeiten Modelle zur Verhinderung von Grenzüberschreitungen. Niemand kann versprechen, dass keine Übergriffe passieren. Wir können aber dafür sorgen, dass wir vorbereitet sind.
Die Landeskirchen stecken schon lange in der Krise: Die Mitgliederzahlen schwinden seit Jahren. Wo liegt das Problem?
Die Leute wollen sich heute nicht mehr an eine Institution binden. Das bekommt auch ein Sportverein zu spüren. Sie wollen ins Fitnessstudio, wo sie nach Lust und Laune ein und aus gehen können. Von dieser Entwicklung dürfen wir uns nicht lähmen lassen.
Aber die Kirchen sind fast leer.
Mich ärgert es, dass Journalisten immer über die leeren Kirchen schreiben. Kirchen wie diese hier in der Enge wurden in einer Zeit gebaut, in der Zürich wuchs. Hier haben tausend Leute Platz. Heute wirkt sie schnell mal verlassen, wenn einige Bänke leer bleiben. Was keiner sagt: Die Gottesdienste am Sonntag haben zusammengerechnet mehr Besucher als die Fussballmatches am Samstag.
Trotzdem müssen sich die Landeskirchen etwas einfallen lassen. Was ist Ihr Rezept?
Ich habe kein Rezept. Vielleicht braucht es aber neue Modelle der Mitgliedschaft, in Richtung punktuelles Engagement. Als junger Erwachsener ist man Nomade und hat keine Lust auf Kirche. Aber wenn die ersten Kinder kommen, möchte man mit ihnen vielleicht am Samstagnachmittag in der Kirche eine Geschichte anhören und den schönen Raum und die Gemeinschaft erleben. Da müssen wir bereitstehen.
In der Öffentlichkeit nimmt man die Kirchen wenig wahr. Was leisten sie überhaupt?
Während der ganzen Corona-Zeit waren wir neben dem medizinischen Personal die Einzigen, die in den Spitälern für die Leute da waren. Während der Flüchtlingskrise standen wir mit unzähligen Freiwilligen auf der Matte, gaben Sprachkurse, übernahmen die Kinderbetreuung, haben Familien für die Flüchtlinge gesucht. Davon spricht kaum jemand.
Sie sprechen ja auch nicht darüber.
Ja. Wir Reformierten müssen lernen, uns besser zu verkaufen. Mehr kommunizieren.
Wir Reformierten sind eben typische Schweizer: zu bescheiden.
Politisch sind die Reformierten lauter als auch schon. «Kirche für Konzernverantwortung» hat prominente Aushängeschilder wie den Zürcher Grossmünster-Pfarrer Christoph Sigrist. Darf die Kirche Politik machen?
Als Kirche arbeiten wir nahe bei den Menschen. Und wer nahe bei den Menschen arbeitet, sieht Probleme in den Strukturen, die aufs Tapet müssen. Unsere Hilfswerke haben mitgeholfen, dass die Initiative zustande kam. Das ist wichtig. Wir müssen für die Leute, die uns anvertraut sind, anwaltschaftlich einstehen. Wir sind aber keine politische Partei.
Sagen Sie – und schauen auf ein grosses Plakat für die Konzernverantwortungs-Initiative, das hier an der Kirche Enge in Zürich hängt. Wie finden Sie das?
Das finde ich unglücklich. Am Kirchenbau sollte kein Plakat hängen. In die Kirche gehen die Menschen, um ihren Glauben und ihre Spiritualität zu leben.
Welche Rolle spielte der Glaube in Ihrem Elternhaus?
Meine Mutter war alleinerziehend, wir drei Kinder wuchsen nicht reformierter auf als andere. Ich besuchte ab und zu die Sonntagsschule, wurde konfirmiert. Als Jugendliche habe ich mich dann aber einer kirchlichen Jugendgruppe angeschlossen. Dort fand ich Sinn – im Glauben und in unserem Engagement beispielsweise für die «Bewahrung der Schöpfung», wie es hiess. Heute wäre das die Klimajugend.
Wann wussten Sie, dass Sie Pfarrerin werden wollen?
Schon als Jugendliche. Gegen Ende des Gymnasiums machte ich eine Schnupperstifti bei einem Pfarrer und wusste: Das ist es. Der Beruf ist so vielseitig, mit der Nähe zu den Menschen aus der ganzen Gesellschaft, dem Gottesdienst, und man muss eine Kirchengemeinde führen, wie eine Managerin.
Zweifelten Sie je an Gott?
Ja, wenn man als Pfarrerin eine Familie begleitet, die ein Kind verliert. Oder wenn Menschen krank werden, die einem nahestehen. Da hadere ich mit Gott. Aber man kann es mit einer Ehe vergleichen: Da hat man auch nicht immer Honeymoon, man muss immer wieder schauen, wie man den Rank findet.
Welche Kirche ist eigentlich die schönste im Land?
Da kommt mir als Erstes die reformierte Kirche von St. Stephan BE in den Sinn. Wunderschön und klein, aus dem 12. Jahrhundert. Dort fühle ich mich geborgen.
Dort wurde ich getauft.
Nach Geborgenheit sehnen wir uns gerade alle: Corona, islamistische Anschläge und nervenzehrende US-Wahlen – was kann die reformierte Kirche uns jetzt geben?
Wir können den Leuten in der Seelsorge ein Gegenüber sein, ihnen Sicherheit geben. Unsere Gottesdienste vermitteln Orientierung und Halt. Bei unseren Beratungsstellen finden Menschen konkrete Hilfe. Und wir können die Menschen dazu ermutigen, der Krise die Stirn zu bieten. Die Menschheit hat schon viele Krisen überlebt und ist daran sogar erstarkt. Das ist jetzt ein bisschen Kirchensprech.
Wie würden Sie es ausdeutschen?
Während des Dreissigjährigen Krieges gab es Pest, Hungersnöte, Elend. In dieser Zeit sind die wunderbaren Lieder von Paul Gerhardt entstanden, die gaben den Menschen Kraft. Auch die biblischen Geschichten von Kreuzigung und Auferstehung erzählen von grossem Leid. Gleichzeitig transportieren sie eine wichtige Botschaft: Gott führt uns auf dem Weg von der Dunkelheit zum Licht. Diese sollten wir zu den Leuten bringen.
Was kann der Einzelne für sich tun, um nicht zu verzweifeln?
Jeder sollte mit anderen über sein Befinden reden. Gleichzeitig den Fokus auf das legen, was einem Kraft gibt: Das kann eine Meditation, ein Spaziergang oder ein lieber Mensch sein. Dann sollte man überlegen, was man anderen Gutes tun kann. Für die Nachbarin einkaufen, für jemanden Zmittag kochen, der Homeschooling machen muss. Man fühlt sich dann weniger ausgeliefert, stark, und man bekommt etwas zurück.
Für Weihnachten sieht es düster aus. Wie können wir damit umgehen?
Familien-Weihnachten und Gottesdienst mit vielen Menschen und geschmücktem Weihnachtsbaum fallen weg. Aber die Botschaft von Weihnachten bleibt: Gott ist uns Menschen nahe. Weil Gott uns nahe ist, sollen wir alle einander nahe sein. Daher rührt die Geschenkkultur. Wenn der ganze Rummel weg ist, entwickeln wir jetzt vielleicht neue Ideen, wie wir der Botschaft trotzdem Ausdruck geben können.