Wo soll sie hin? Zu Freunden? Auf keinen Fall in eine Zivilschutzanlage. Für wie lange? Eine Woche ginge noch, zwei ebenfalls. Aber was, wenn es sechs Monate sind?
Das sind die Fragen, die sich Ruth Tarnutzer (59) seit Donnerstagabend stellen muss. Sie ist eine von 80 Brienzerinnen und Brienzern, die damit rechnen müssen, demnächst zwangsevakuiert zu werden.
Der Berg kommt. Seit einigen Wochen rumpelt es im Bündner Dorf, viel stärker als je zuvor. Seit Ostern ist die Kantonsstrasse gesperrt, in den Ort kommt man nur über eine schmale Zubringerstrasse. An einer Begehung am Donnerstagnachmittag gibt der Berg wie auf Bestellung nach. Erst ein Knistern, dann donnert es, als ein Gesteinsbrocken abbricht und wie ein Wagenrad den Berg hinunterjagt. «Zurück, zurück!», sagt Christian Gartmann, Mediensprecher der Gemeinde Albula, zu der Brienz gehört, zu den anwesenden Journalisten. Ein Baum hält den Brocken auf. Auch Gemeindepräsident Daniel Albertin ist beunruhigt: «Der wäre weit gekommen.»
Freunde hielten sie für wahnsinnig
Nur das alte, geschlossene Schulhaus steht zwischen Ruth Tarnutzers Wohnung und dem Berg. In direkter Schusslinie sei sie und lacht. Galgenhumor.
Letzten August ist sie nach Brienz gezogen, in die Wohnung über dem derzeit geschlossenen Restaurant. Eine Wohnung voller Licht, vom Balkon sieht man bis nach Stierva und Mon. Das Mietverhältnis ist aber nur befristet. Darum wird sie im Sommer 200 Meter weiter östlich, aus der Schusslinie, in eine Wohnung mit unbefristetem Mietverhältnis ziehen. Ob sie wahnsinnig sei, fragten sie ihre Freunde. Tarnutzer lacht wieder und zuckt mit den Schultern. Die Ruhe, das viele Grün, die Weitsicht. «Für mich ist es das Paradies», sagt sie.
Ein Paradies auf Zeit. Und die wird knapp.
Bergpartie «Insel» bewegt sich schnell
Am Donnerstagabend kommen die Brienzer einmal mehr runter in die Turnhalle nach Tiefencastel, die Gemeinde informiert über die neusten Entwicklungen.
Tarnutzer erscheint mit schwarzem Mäppli, macht sich Notizen. «Noch sei alles im grünen Bereich, im dunkelgrünen», sagt sie zu einer Bekannten. Man merkt ihr die Nervosität an.
Es ist paradox: Gerade erst konnte man erste Erfolge vermelden mit einem Entwässerungsstollen. Denn auch das Dorf selbst rutscht bedrohlich rasch nach unten. Nun aber kommt das Problem von oben.
Eine Bergpartie, «Insel» genannt, bewegt sich seit März rasant schneller. Sie wird in den kommenden Monaten abstürzen, davon gehen die Fachleute aus.
1,9 Millionen Kubikmeter Schutt würden herunterkommen – beim Bergsturz in Bondo GR im Jahr 2017 waren es drei Millionen Kubikmeter.
Angst macht sich breit
Mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent am realistischsten sind kleinere Felsstürze, ein «häppchenweises» Abbrechen der Insel. Zu 30 Prozent könnte sie in einem zähflüssigen Schuttstrom herunterkommen. Die Gefahr eines plötzlichen Bergsturzes mit Geschwindigkeiten bis zu 200 Kilometern pro Stunde liegt bei zehn Prozent. Je länger der Geologe spricht, desto beklemmender werden seine Aussagen. Der nüchterne Schrecken des Wissenschaftsjargons.
Gehe es so weiter, müsse man mit «sehr grosser Wahrscheinlichkeit» dieses Jahr evakuieren. Laut Behörden bleiben dafür mehrere Tage Zeit, man sei aber auch auf eine sofortige Räumung vorbereitet. In diesem Fall wird das Dorf zur Sperrzone: Betretungsverbot, Zufahrtsstrassen mit Betonelementen blockiert, im Norden stünde ein bemannter Checkpoint für kontrollierte Zugänge.
Die Botschaft ist klar: Macht euch bereit, packt eure Sachen.
«Wir wachen jede Nacht auf, liegen wach»
Mittlerweile geht in Brienz auch ein Riss durch die Bevölkerung. In der Fragerunde fordert jemand eine geschlossene Veranstaltung – ohne Medien und Zweitwohnungsbesitzer. «Die Dramatisierung und das Verzerren von Fragen können belastend sein», sagt er. Zustimmung im Saal.
Im Gespräch mit Einheimischen gibt es solche, die sagen, Angst bringe nichts: «Die Presse macht mehr Angst, als wir eigentlich haben.» Man lebe seit 40 Jahren hier, der Berg mache, was er wolle. Es komme, wie es komme. Viele sind die Journalisten leid, die in zuverlässigen Abständen ins Dorf schwärmen und an Haustüren klingeln.
Ein anderer Bewohner sagt: Warum setzt die Gemeinde noch auf Messungen und Entwässerungsstollen? Sinnlos sei das. «Wir wachen jede Nacht auf, liegen zwischen vier und fünf Stunden wach. Nicht erst seit heute, sondern seit Jahren.»
Das sei kein Steinschlag mehr, sondern ein sich anbahnender Bergsturz. Die Gemeinde müsse endlich damit aufhören, etwas zu retten, was nicht mehr zu retten sei.
Es geht auch ums Geld
Gemeindepräsident Albertin, Augen hell wie Gletscherwasser, warmer Händedruck, hat keine einfache Aufgabe. Er muss vermitteln, zusammenhalten, den Bruch im Dorfgefüge verhindern. «Die Alten sind sich das Rumpeln gewohnt. Aber seit 2017 gibt es eine markante Beschleunigung», sagt er. Ihnen klarzumachen, dass sich in den letzten Jahren und vor allem Wochen etwas verändert habe, sei schwierig.
Gleichzeitig will er den Leuten so viel Sicherheit wie möglich geben. Er spricht vom «kommunikativen Spagat».
Am Abend geht es auch um Geld – und um jene, die weniger privilegiert sind als die Zweitwohnungsbesitzer, von denen es viel mehr gibt als Brienzer. Was übernehmen Versicherungen im Schadensfall, was nicht? Laut einer Umfrage der Gemeinde von vor zwei Jahren bräuchten 17 Personen Hilfe bei der Wohnungssuche. Gibt es finanzielle Unterstützung für diejenigen, die sich eine Wohnung suchen müssen?
«Wir haben die schlimmsten Varianten gezeigt»
Fragen, die auch Ruth Tarnutzer beschäftigen. Tarnutzer arbeitet im Detailhandel in Valbella GR. Zuvor lebte sie in Masein GR. Runter nach Thusis GR, auf der anderen Seite wieder hinauf, 30 Minuten – jeden Tag, im Winter länger. Vorbei an den heruntergelassenen Rollläden der zahlreichen Zweitwohnungen. Zwei Jahre hat sie eine Wohnung näher bei der Arbeit gesucht. «Aber als Einheimische hast du keine Chance», sagt sie. Es gibt kaum Wohnungen. Im Umkreis von 20 Kilometern sind 37 Wohnungen frei, 3,5-Zimmer aufwärts. Und wenn, sind sie teuer. Um im Fall einer Evakuierung eine zweite Wohnung anzumieten, fehlt Ruth Tarnutzer das Geld.
Daniel Albertin hat an diesem Abend längst nicht auf alle Fragen eine Antwort. Aber er findet die richtigen Worte. Zum Schluss klingt er fast staatsmännisch: «Wir haben Ihnen heute Abend viel zugemutet. Wir haben Ihnen die schlimmsten Varianten gezeigt. Wir machen das nicht, um sie zu verunsichern. Nur wenn wir ans Schlimmste gedacht haben, sind wir am besten vorbereitet. Auch wenn es schliesslich anders kommt. Wir wissen vieles noch nicht. Aber was wir jetzt schon wissen: Sie werden nicht alleine gelassen.» Das ist er, der kommunikative Spagat.
Einen Tag später. Ruth Tarnutzer hat alle wichtigen Dokumente sortiert, sie weiss, welche Wertgegenstände sie mitnimmt: die eingerahmten Bilder der verstorbenen Eltern. Den Koffer will sie aus dem Keller holen, sich Kleider bereitlegen.
Was sie nicht weiss, ist, wohin sie und ihre Katze Mia gehen sollen. Sie will nochmals bei Freunden anfragen und der Gemeinde mitteilen, dass sie auf Hilfe angewiesen ist.
Wegziehen, in einen anderen Kanton sogar, ist keine Option. Seit 20 Jahren lebt die gebürtige Aargauerin in den Bündner Bergen, in Brienz will sie bleiben. «Es ist meine Heimat.» Sie sagt es in einem Dialekt, der mehr bündnerisch als aargauisch klingt.