Nach der Verhandlung war für das Regionalgericht Oberland in Thun BE die Sache klar: Viviane Obenauf Tagliavini (36) hat ihren Mann Thomas F.* (†61) ermordet. Die Profiboxerin aus Interlaken BE ist zu 16 Jahren Knast verurteilt worden. Zudem kassiert sie einen Landesverweis von zwölf Jahren.
Während der Verhandlung im Dezember sagte der Gerichtspräsident, dass es sich um einen Indizienprozess handelt. Niemand hat beobachtet, wie Kultwirt Thomas F. umgebracht wurde. «Klar ist bei einem Indizienprozess, dass nicht alle Beweise vorliegen, die eine Tat hieb- und stichfest beweisen. Viel mehr gibt es ein Mosaikbild, wie das die Staatsanwaltschaft auch ausgeführt hatte», so der Richter.
Profi-Boxerin wehrt sich
Dementsprechend ist es schwer, bei einem solchen Prozess ein klares Urteil zu fällen. Die Staatsanwaltschaft brachte mehrere Indizien vor, die Obenauf Tagliavinis Schuld beweisen sollen.
Im SonntagsBlick, in ihrem ersten Interview seit der Tatnacht am 19. Oktober 2020, kritisierte Obenauf Tagliavini den Schuldspruch des Regionalgerichts. «Es gab keinen einzigen direkten Beweis für meine Schuld.» Die Argumentation der Staatsanwaltschaft sei auf Indizien gebaut gewesen, die ein Puzzle ergeben haben sollen, sagt Obenauf Tagliavini bei einem Gefängnisbesuch von SonntagsBlick. «Obwohl Puzzleteile fehlten, soll ein schlüssiges Bild erkennbar gewesen sein, welches schliesslich zu meiner Verurteilung führte. Dieses Gericht brauchte einen Täter, der Druck in der Region war zu gross.»
Obenauf Tagliavini und ihr Anwalt ziehen den Fall weiter ans Obergericht. Sie erhoffen sich, dass die 36-Jährige freigesprochen wird.
«Indiz kann überbewertet werden»
Welche Schwierigkeiten bergen solche Indizienprozesse? Der Zürcher Rechtsanwalt Valentin Landmann (72) ordnet ein. «An sich ist der Indizienbeweis der beste Beweis», sagt er gegenüber Blick. «Zeugen können lügen, Indizien nicht.» Ein Indizienprozess könne knallhart sein und schliesslich zu einem sicheren Resultat führen.
Allerdings müsse man eine Sache stets beachten, sagt Landmann: «Es stellt sich immer die Frage, wie man die Indizien wertet und was man daraus schliesst.» So könne etwa die DNA-Spur eines mutmasslichen Täters am Tatort einer Tötung ein klarer Beweis sein. Aber: «Wenn sich der Täter regelmässig dort befindet, verliert das Indiz stark an Gewicht.»
Landmanns Schlussfolgerung: «Ein Indiz kann sich nicht irren, aber es kann überbewertet werden.»
Obergericht könnte Urteil korrigieren
Bei einer Verurteilung in einem Indizienprozess sei es nicht unüblich, dass das Urteil an eine höhere Instanz weitergezogen werde. Das macht auch Obenauf Tagliavini. «Das Obergericht hat eine umfassende Kontrollfunktion. Es kann einen Fall in seiner Gesamtheit überprüfen», erklärt Landmann. Daher bestehe für Verurteilte nach wie vor Hoffnung: «Beim Obergericht hat man durchaus Chancen, dass ein Urteil korrigiert wird.»
Davon jedenfalls ist Profiboxerin Viviane Obenauf Tagliavini felsenfest überzeugt. «Wir haben neue Fakten, und ich gehe davon aus, dass dieses Mal die Ermittlungen anders laufen: fairer, ausgewogener, weitreichender. Es muss doch Gerechtigkeit geben.»
* Name geändert