Es sind Szenen wie aus einem Horrorfilm: Am 2. September 2020 rücken die beiden St. Galler Stadtpolizisten Andreas F.* (48) und Pascal T.* (29) mit Blaulicht zu einem Einsatz an der Speicherstrasse aus. Ihnen wurde eine Auseinandersetzung zwischen einem Mann und einer Frau gemeldet.
Als sie in der Wohnung eintreffen, bietet sich ihnen ein Bild des Grauens. Die beiden Gesetzeshüter werden Zeugen, wie der offensichtlich wahnhafte Steve P.* (†22) im Drogenrausch gerade die Kinderbetreuerin Giuliana R. (†46) umbringt.
Als die Streife eintraf, holte Steve P. einen Kochtopf
Die St. Galler Staatsanwaltschaft schildert in ihrer Anklageschrift, die Blick vorliegt, nun erstmals die dramatischen Tatumstände: Umgeben von Kinderspielzeug lag die Nanny an jenem Mittag vor dem Kücheneingang in einer Blutlache.
Auf ihr kniet P. und schlägt ihren Kopf immer wieder auf den Fussboden. Täter und Opfer waren sich zuvor zufällig auf der Strasse begegnet. Die beiden kannten sich nicht. Als Polizist Andreas F. den Angreifer mit gezogener Waffe stellt, steht der junge Ostschweizer «blitzartig» auf und eilt in die Küche.
Dort sucht Steve P. etwas in einer Besteckschublade. Polizist F. befürchtet, dass er sich mit einem Messer bewaffnen könnte und warnt darum seinen Kollegen Pascal T., der zunächst noch mit der Zentrale gefunkt hatte und ihm nun zu Hilfe geeilt war.
14 Schüsse in Wohnung abgefeuert
Als der Angreifer wieder aus der Küche kommt, stürzt er sich unmittelbar auf Giuliana R. Nicht aber mit einem Messer, sondern mit einem Metallkochtopf. Beide Polizisten schreien P. mit gezogener Waffe wiederholt an, endlich aufzuhören. Ohne Erfolg.
Darauf drücken beide Gesetzeshüter unabhängig voneinander den Abzug ihrer Pistolen. Sie schiessen so lange, bis Steve P. regungslos über der Nanny zusammensackt. «Aus jeder Waffe wurden sieben Projektile abgefeuert, wobei es nicht möglich ist nachzuvollziehen, welches Projektil aus welcher Waffe stammte», bilanziert die Staatsanwaltschaft.
Und weiter: «Steve P. wurde von zehn Schüssen getroffen. Sofort tödlich war der Schuss in den Hinterkopf von P., der um 12.27 Uhr durch den Notarzt für tot erklärt wurde.» Für den Schusswaffengebrauch mit tödlichem Ausgang müssen sich Andreas F. und Pascal T. nun Ende November vor dem Kreisgericht St. Gallen verantworten.
Kreisgericht muss Todesschüsse beurteilen
Weil unklar ist, welcher Gesetzeshüter Steve P. getötet hat, sind beide wegen versuchter Tötung und mehrfacher schwerer Körperverletzung angeklagt. Die Staatsanwaltschaft beantragt einerseits Freisprüche, in einer Alternativanklage aber auch Verurteilungen zu 13 Monaten Haft auf Bewährung.
«Die rechtliche Würdigung des Sachverhalts ist sehr komplex und obliegt dem Kreisgericht St. Gallen», hiess es dazu von der Medienstelle bereits im August.
Polizei-Insider erklären die vielen abgefeuerten Schüsse mit dem Drogenrausch von Steve P. Nachdem dieser nur Stunden zuvor aus einer psychiatrischen Klinik entlassen wurde, dröhnte er sich offenbar in einem öffentlichen Park zu, ehe er zur Tat schritt. Die ersten Schüsse verfehlten daher mutmasslich zunächst die gewünschte Wirkung.
Einsatzkräfte verfügten über keine Tasergeräte
Dazu kommt: Obwohl einer der beiden Polizisten über eine Ausbildung mit dem Taser verfügt, hatte er die Elektroschockpistole bei besagtem Einsatz nicht dabei. Sämtliche Geräte der Stadtpolizei seien an jenem Tag defekt oder in Reparatur gewesen, heisst es dazu aus Polizeikreisen. Es gab demnach keine mildere Alternative zum Schusswaffengebrauch.
«Aufgrund des laufenden Verfahrens beantworten wir keine Fragen zum erwähnten Polizeieinsatz», sagt dazu Roman Kohler, Mediensprecher der Stadtpolizei St. Gallen. Wie bei allen Einsatzmitteln seien auch bei Tasern Ausfälle möglich. «Zudem ist auch eine regelmässige Wartung nötig, was dazu führt, dass nicht immer alle angeschafften Geräte zur Verfügung stehen», so Kohler. Das Mitführen sei auch heute noch für alle Angehörigen des Korps freiwillig.
Italien ehrte Giuliana R. als Heldin
Unabhängig von der Taser-Frage ist aber klar: Für Giuliana R. kam jede Hilfe zu spät. Die Süditalienerin wird zwar noch ins nicht weit entfernte Kantonsspital gebracht, dort aber kurze Zeit später ebenfalls für tot erklärt. Todesursache war demnach ein zentrales Regulationsversagen infolge eines schweren Schädel-Hirn-Traumas.
Giuliana R., die in St. Gallen den Nachwuchs einer Ärztin hütete, um ihre eigenen drei Kinder in der Heimat zu versorgen, wurde von ihrer Regierung posthum mit dem Orden des Sterns von Italien ausgezeichnet. Es handelt sich um die höchste zivile Auszeichnung, die der Staat vergeben kann. R. erhielt sie für ihre unermüdlichen Dienste als Büezerin.
* Name bekannt