«Guarda! Guarda! Schauen Sie sie an, schauen Sie sie an!», donnerte Luigi L.* am heutigen Mittwoch vor zwei Richtern und einer Richterin am Kantonsgericht St. Gallen. Diese erstarrten zusehends ob so lauten Emotionen in diesem erhabenen Saal. Er streckte den erhöht sitzenden Richtern mehrere laminierte Fotos seiner Tochter regelrecht über den Tresen und unter die Nase.
Die Frau auf den Fotos ist Francesca L. (†32). Die Ärztin starb 2015, nachdem sie für ein Sex-Date mit dem Schweizer Arzt René F. (58) hunderte Kilometer von Italien nach St. Gallen gefahren war. Weshalb sie gestorben ist, weiss noch immer niemand. Die Frau wollte damals nach einer mehrstündigen Sex-Session eine Zigarette rauchen gehen – der Arzt fand sie später nach eigenen Angaben zusammengesunken auf dem Geländer des Balkons und brachte sie aufs Sofa. Sie war tot.
Freispruch hielt die Eltern nicht ab
2021 sprach das Kreisgericht St. Gallen den 58-jährigen Schweizer frei. Die Aussagen des Beschuldigten klangen für die Einzelrichterin überzeugend. Das Gericht glaubte ausserdem dem Gutachten eines Experten. Diesen Freispruch wollte die Familie der verstorbenen Sizilianerin nicht akzeptieren. Am Mittwochmorgen, fast achteinhalb Jahre nach ihrem Tod, kämpften Vater, Mutter und Bruder für Gerechtigkeit – und Genugtuung.
Die vergleichsweise müden Plädoyers der beiden Anwälte in der Berufungsverhandlung konnten nicht ansatzweise mit der hitzigen Rede des Luigi L. mithalten. Die Anklage monierte Unstimmigkeiten und wenig Interesse seitens der Behörden an der Aufklärung des Falles, die Verteidigung beharrte auf den bekannten Gutachten, die schon 2021 vorgebracht wurden. «Mein Mandant hätte nie angeklagt werden dürfen», ist sich der Verteidiger von René F. sicher. «Vor Gericht gezerrt», hätte die Familie den Schweizer Arzt.
Fragen über Fragen
«Diese junge Frau hätte Ihre Tochter sein können!», schmetterte Luigi L. dem Richtergremium auf Italienisch entgegen. Später übergibt er Blick einen Ausdruck seiner Rede. Ein Mikrofon wäre an diesem Mittwochmorgen nicht nötig gewesen. Luigi L.s Stimme nahm den Raum, und seine Fragen blieben schwer in der Luft hängen. «Wieso wurden die Mobiltelefone des Beschuldigten nicht beschlagnahmt? Wieso rief er am Morgen nach dem Todesfall die Staatsanwältin an? Was für ein Vertrauensverhältnis bestand zu ihr?»
Doch was den Vater, der seine Tochter verloren hatte, am meisten umtreibt: «Warum hatte der Beschuldigte das dringende Bedürfnis, die Gläser abzuwaschen, wo doch in diesem Raum der tote Körper meiner Tochter auf dem Sofa lag?» Verzweiflung war aus seiner Stimme heraus zu hören, immer wieder war der Vater den Tränen nah, seine gewaltige Stimme kurz vor dem Versagen.
Weiter beschreibt er in seiner Rede, wie es sich anfühlt, ein Kind zu verlieren: «Plötzlich wurden wir durch einen abscheulichen Akt in einen Graben voller Schmerz und Tränen katapultiert, in eine Leere ohne Trost. Seit ihrem Tod spüre ich ein dumpfes Gefühl des Zorns.» Er fährt fort: «Wir bitten Sie, meine Dame und Herren Richter, auf unsere Pein mit einem Tropfen Wahrheit zu antworten.»
Mutter ist nicht sehr zuversichtlich
Auch die Mutter und der Bruder der verstorbenen Francesca L. sprechen mit Blick. «Meine Mutter ist sehr pessimistisch, sie glaubt nicht wirklich an eine Verurteilung», sagt der Bruder in einer Verhandlungspause. Seine Schwester sei eine lebensfrohe Frau gewesen, eine passionierte Töfffahrerin. Vom Angeklagten hält die Familie nicht viel: «Wir sind überzeugt, dass er von den Behörden und Gerichten anders behandelt wird, weil er eine leitende Position innehat.»
Noch ist nicht bekannt, ob der 58-jährige Arzt René F.* für fahrlässige Tötung und Unterlassen der Nothilfe in zweiter Instanz vom Kantonsgericht St. Gallen verurteilt wird. In seinem Schlusswort sagte der Angeklagte: «Es tut mir unsagbar leid, was passiert ist. Ich bin aber in keinster Art und Weise daran beteiligt gewesen.»
Das Urteil folgt in den kommenden Tagen.
*Namen geändert