Auf einen Blick
- Tödlicher Vorfall am Bahnhof Flawil SG: Kosovare vor Gericht wegen Faustschlag
- Opfer habe Beschuldigten vor dem Vorfall als «Scheiss-Ausländer» und «Junkie» beleidigt
- Staatsanwaltschaft fordert 3 Jahre und 10 Monate Gefängnis und 10 Jahre Landesverweisung
- Anwalt beantragt Freispruch – es sei Notwehr gewesen
Urteil schriftlich
Das Urteil wird nicht mündlich verkündet. Der Vorsitzende Richter und sein Gremium haben sich für eine schriftliche Eröffnung entschieden. Erwartet wird das Urteil in den nächsten Tagen.
«Ich entschuldige mich bei der Familie»
«Mir tut die ganze Situation sehr leid. Ich bedauere es sehr und es ist jeden Tag präsent», sagt Adnan T. «Ich entschuldige mich hiermit auch bei der Familie von Ruedi L.», sagt er. Er habe ihn stets nur «weghaben» wollen.
Noch einmal führt er aus, dass ein Landesverweis für ihn «eine Katastrophe» wäre.
Damit ist sein Schlusswort vorbei. Das Gericht berät sich nun kurz darüber, wann und in welcher Form das Urteil gesprochen werden soll.
Keine Notwehr
Der Staatsanwalt antwortet knapp auf die zahlreichen Angriffe der Verteidigung. «Sie wollten beide zum Bahnhof», sagt er. «Es kann nicht von einer Verfolgung die Rede sein.»
Die Notwehr lässt er nicht gelten. «Ruedi L. berührte den Beschuldigten nie und schlug auch nie zu.» Die geballte Faust des Mannes sei gegen unten gerichtet gewesen. Damit ist der Staatsanwalt bereits am Ende mit seinem zweiten Vortrag.
Da der Strafverteidiger auf einen zweiten Vortrag verzichtet, ist diese Verhandlung schon fast vorüber. Es folgt das Schlusswort des Beschuldigten.
«Schweizer ohne roten Pass» – Anwalt will keinen Landesverweis
Der Strafverteidiger von Adnan T. thematisiert jetzt seine «Eventualanträge». Damit gemeint ist, worauf er plädiert, wenn das Gericht Adnan T. der fahrlässigen Tötung und der schweren Körperverletzung schuldig sprechen würde.
In diesem Fall will der Anwalt auf eine Freiheitsstrafe von maximal sechs Monaten, aufgeschoben zugunsten einer Therapie. Grund dafür sei die Drogensucht seines Mandanten, der damals jahrelang Heroin, Kokain und Benzodiazepine konsumiert hatte. Er bemühe sich aber stets um seine Abstinenz. «Der Strafvollzug würde den Therapieerfolg beträchtlich beeinflussen. Auch wenn das dem Staatsanwalt nicht passt», sagt der Anwalt noch einmal mit einem Seitenhieb auf die Anklage.
Adnan T. solle nicht aus der Schweiz verwiesen werden. «Ein schwerer persönlicher Härtefall», sei der Grund dafür. Er sei hier geboren und aufgewachsen und sehr gut integriert. «Er ist ein Schweizer ohne roten Pass.»
Damit ist das Plädoyer des Strafverteidigers von Adnan T. vorüber. Es geht direkt weiter mit dem zweiten Vortrag der Staatsanwaltschaft.
Nothilfe könne nicht zugemutet werden
Was passiert sei, «ist tragisch». Das gibt auch der Anwalt von Adnan T. zu. Aber unter den vorliegenden Vorkommnissen hätte es für seinen Mandanten keine andere Möglichkeit gegeben.
Auch die unterlassene erste Hilfe nach der Tat sei zu erklären. «Er wusste nicht, dass Ruedi L. sich lebensbedrohliche Verletzungen beim Sturz zugezogen hatte», sagt der Anwalt. Unter diesen Umständen sei es Adnan T. nicht zugemutet werden können, Nothilfe zu leisten.
Der Anwalt fordert für die Hauptvorwürfe einen Freispruch. Es folgt eine kurze Pause. In zehn Minuten geht es weiter.
«Von der Notwehr gedeckt»
Das Handeln seines Mandanten sei durchgängig «von der Notwehr gedeckt», sagt der Strafverteidiger. Mittlerweile wiederholen sich die Aussagen des Anwalts teilweise, und sein Plädoyer dauerte jetzt schon doppelt so lange wie jenes der Staatsanwaltschaft.
«Er muss nicht weichen»
«Er darf sich wehren. Er muss nicht weichen.» Der Anwalt spricht mit Kunstpausen und äusserst temperamentvoll. In seinem Laptop steckt ein kleiner, elektrischer Ventilator, der ihm Luft zufächert. Angesichts seiner lebhaften Äusserungen und Gestiken ist dieser wohl auch nötig.
«Die Aktenlage liefert keinen einzigen Anhaltspunkt für eine solche Unterstellung», fährt der Anwalt fort und meint damit die «hohe kriminelle Energie», die seinem Mandanten unterstellt wird.
Adnan T. folgt dem Plädoyer seines Anwalts mit in seinen Händen verborgenem Gesicht. Er hört ihm aufmerksam zu und hat den Blick zwischen den Fingern hindurch gesenkt. Der Anwalt macht weiter: Das Plädoyer der Staatsanwaltschaft sei mit «Unstimmigkeiten» und «Unwahrheiten» gespickt. Der einzige, der alles mitbekommen habe und noch aussagen könne, sei sein Mandant.
«Mit einem einzigen Faustschlag zur Wehr gesetzt»
«Junkie, Drecksausländer, Sozialschmarotzer», schildert der Anwalt die Beleidigungen, die sein Mandant sich habe anhören müssen. Er habe immer wieder gesagt, Ruedi L. solle ihn in Ruhe lassen.
Der Anwalt redet sich fast in Rage: «Er ist mit seinem Velo in den Weg gestanden und habe gesagt, er werde nirgends hingehen können. All das haben wir von der Staatsanwaltschaft nicht gehört. Weil es nicht in die Argumentationslinie passt!»
Adnan T. habe absichtlich einen Umweg genommen, um dem aggressiven Ruedi L. zu entfliehen. Vor dem Verkaufsautomaten am Bahnhof habe er wieder gesagt, der 57-jährige Mann solle ihn in Ruhe lassen. Auch ein Schubser und einen Fall auf den Hosenboden habe daran nichts geändert. «Nach dem Aufstehen ist er mit geballter Faust in Richtung des Beschuldigten gegangen. Dann, und erst dann, hat er zugeschlagen.»
Der Anwalt zeichnet mit seinem inbrünstigen Plädoyer und teils lauten Plädoyer ein Bild des Beschuldigten, der «seine linke Hand» (und damit nicht dominierende) einsetzte und sich mit «einem einzigen Faustschlag» zur Wehr setzte.
«So geht es einfach nicht!»
Der Vortrag des Strafverteidigers ist schnell und ausufernd. Grundsätzlich sagt der Anwalt: Der Schlag alleine sei nicht für das Ableben des Ruedi L. verantwortlich.
Ruedi L. habe zudem eine Blutalkoholkonzentration von 0,9 Promille gehabt. «Bei einem solchen Wert kommt es oft zu Selbstüberschätzung und Aggression.»
Der Beschuldigte habe immer wieder gesagt, das Opfer solle «ihn in Ruhe lassen». Ruedi L. sei nach dem Schubser aufgestanden und habe sich direkt wieder Adnan T. genähert. Ein Zeuge habe eine «Rangelei» gesehen.
Sein Mandant habe richtig reagiert, sagt der Anwalt, und feuert eine erneute Breitseite auf die Anklage ab: «Immer wieder Versuche, zu deeskalieren! Und der Staatsanwalt behauptet, er habe nur dreinschlagen wollen. So geht es einfach nicht!»
«Auch wenn der Staatsanwalt ‹Freestyle› daraus zitieren möchte!»
Der Anwalt zieht nun fast das gesamte Verfahren in Zweifel. «Sämtliche nicht parteiöffentlich geführten Befragungen und Einvernahmen sind nicht zulasten des Beschuldigten verwertbar», sagt der Anwalt.
Die Whatsapp-Nachrichten seien wohl gesichert worden, «sie wurden dem Beschuldigten aber nicht ein einziges Mal vorgehalten», so der Anwalt. Diese Nachrichten seien deshalb in diesem Verfahren unmöglich verwertbar. «Auch wenn der Staatsanwalt ‹Freestyle› daraus zitieren möchte!» Der Vortrag der Anklage sei zudem «wenig kreativ», «dogmatisch» und komme «aus einer bestimmten Ecke».
Am 28. August 2021, kurz vor ein Uhr nachts, bot sich am Bahnhof Flawil SG ein grauenhaftes Bild. Ruedi L.* (†57) lag auf dem Perron, direkt neben dem Selecta-Automaten, und bewegte sich nicht mehr.
Später sollte sich herausstellen, dass der Schädel des Mannes gebrochen war, ebenso sein Nasenbein. Er hatte ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und Einblutungen ins Gehirn. Am Nachmittag desselben Tages verstarb Ruedi L. im Kantonsspital St. Gallen an seinen schweren Verletzungen.
Kurz darauf nahm die Kantonspolizei einen Verdächtigen fest. Es ist Adnan T.* (heute 43). Der aus dem Kosovo stammende Monteur steht im Verdacht, für Ruedi L.s Tod verantwortlich zu sein. Er sass fast drei Monate lang in Untersuchungshaft, kam danach unter Auflagen frei. Jetzt steht er vor dem Kreisgericht Wil in Flawil SG.
Die Anklage wirft ihm Folgendes vor: fahrlässige Tötung, schwere Körperverletzung, mehrfache Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes und des Personenbeförderungsgesetzes. Was war passiert?
«Scheiss-Ausländer»
Adnan T. und sein Kollege Kostas F.* seien um ca. 0.40 Uhr auf dem Weg an den Bahnhof Flawil SG gewesen. Auf dem Weg seien sie vor den beiden «stark betrunkenen» Ruedi L. und Ueli P.* gelaufen, steht in der Anklageschrift.
Dabei habe Ruedi L. Adnan T. und Kostas F. immer wieder als «Junkies» und «Scheiss-Ausländer» betitelt. Am Bahnhof Flawil angekommen, sei Adnan T. zum Selecta-Automaten gegangen, um sich ein Getränk zu holen.
Obwohl er versucht haben soll, ihn abzuschütteln, soll Ruedi L. ihn mit seinem Velo verfolgt und auch auf dem Perron weiter mit «Scheiss-Ausländer» und ähnlichen Beschimpfungen eingedeckt haben. Zudem habe er direkt neben Adnan T. in den Automaten gekickt.
Adnan T. habe Ruedi L. weggestossen und gesagt, er solle ihn in Ruhe lassen. Doch gemäss Anklageschrift hörten die Provokationen nicht auf und Ruedi L. kam dem Beschuldigten immer wieder nahe.
«Provozier mich nicht»
Dann habe der Kosovare ausgeholt und «ihm mit der linken Faust mit voller Wucht ins Gesicht» geschlagen, so die Anklageschrift. Ruedi L. sei nach hinten umgekippt, mit dem Kopf auf dem Betonboden aufgeschlagen und reglos liegengeblieben. «Ich habe es dir ja gesagt, lass mich in Ruhe, provozier mich nicht», soll Adnan T. gesagt haben.
Ohne sich um den lebensgefährlich verletzten Ruedi L. zu kümmern, habe sich Adnan T. daraufhin aus dem Staub gemacht. Ein Zeuge habe die Rettung verständigt, diese brachte Ruedi L. ins Kantonsspital St. Gallen, wo er später starb.
Gefängnis und Landesverweis gefordert
Adnan T. steht am Montag vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft fordert eine Gefängnisstrafe von drei Jahren und zehn Monaten und eine Landesverweisung von 10 Jahren. Zudem soll er eine Busse von 500 Franken bezahlen und sämtliche Verfahrenskosten übernehmen.
Ausserdem wird Adnan T. vorgeworfen, damals täglich Heroin und gelegentlich Kokain konsumiert zu haben und mehrmals ohne Billett im Zug unterwegs gewesen zu sein.
Anwalt David Gibor, der Strafverteidiger von Adnan T., sagt auf Anfrage gegenüber Blick: «Die Staatsanwaltschaft bestätigt zwar die Beleidigungen, Provokationen und Aggressionen durch das Opfer in der Anklageschrift. Nur zieht sie daraus nicht die richtigen Schlüsse.» Der Beschuldigte habe sich mehrmals bemüht, einen Konflikt zu vermeiden.
Erst als er keine andere Möglichkeit mehr sah und vom Opfer angegriffen wurde, habe er ihm «einen einzigen Faustschlag versetzt». Dabei sei das Opfer unglücklich gestürzt und habe sich dabei schwer verletzt. Der Beschuldigte habe sich in einer Notwehrlage befunden, was die Staatsanwaltschaft ignoriere. Gibor verlangt einen Freispruch. Adnan T. selbst war für Blick nicht zu erreichen. Bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung.
Der Prozess beginnt am Montag um 8.30 Uhr. Blick berichtet live.
* Namen geändert