Oft rinne ihr der Schweiss den Rücken runter, erzählt Anna*. Doch sie komme nicht dazu, etwas zu trinken oder aufs WC zu gehen. Abends sei sie dehydriert.
Die seit vielen Jahren als Pflegerin auf einer Intensivpflegestation (IPS) tätige Anna schildert in einem ausführlichen, anonymen Interview im Sarganserländer, wie sie von Corona-Gegnern denunziert wird, dass sie und ihre Kollegen oft als Lügner bezeichnet werden, die Verträge unterzeichnet hätten, um falsche Angaben zu machen. Und nervt sich. «Was hätte ich davon?», sagt sie. «Wir erzählen, was wir erleben. Nicht mehr, nicht weniger.»
Und schildert sodann, wie es seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie auf ihrer Station tatsächlich zu und her geht.
«Die aktuelle Situation ist in keiner Art und Weise vergleichbar mit allem, was ich bisher erlebt habe. Wir, das Personal, sind nach mittlerweile 18 Monaten Pandemie extrem erschöpft», sagt sie. Sie seien früher immer ein sehr aufgestelltes Team gewesen. «Jetzt ist nur noch wenig davon übrig. Kollegen, die vorher nie gejammert haben, sagen heute, dass sie einfach nicht mehr können.»
Früher schwere Patienten zu fünft gedreht, heute zu dritt
Sie seien so am Anschlag, weil sie in den letzten 18 Monaten nie eine Erholungsphase hatten. Anna: «Es begann mit der ersten Welle im Frühling 2020. Danach machte Covid eine Pause, dafür wurden in den Sommer- und Herbstmonaten alle aufgeschobenen Operationen nachgeholt. Das hat uns wieder an die Grenzen gebracht. Und dann folgte ab dem Spätherbst 2020 eine Covid-Welle nach der anderen. Unsere Energie ist aufgebraucht.»
Bei Covid-Patienten seien die Herausforderungen in der Pflege viel grösser als bei anderen. «Es hat sehr schwere Menschen darunter, die man regelmässig umlagern und oft auch auf den Bauch drehen muss. Während der ersten Welle konnte eine sehr aufwendige Bauchlagerung noch von fünf Personen durchgeführt werden. Jetzt sind es wegen des Personalmangels noch drei Teammitglieder, die für diese Arbeit eingesetzt werden.»
«Habe den Patienten gegenüber immer öfters ein schlechtes Gewissen»
Die Pfleger seien «ständig auf den Beinen, man rennt von Ort zu Ort, sollte überall gleichzeitig sein und hat kaum einmal mehr Zeit, um eine Arbeit in Ruhe fertigzumachen». Hinzu kämen die Schutzanzüge und FFP2-Masken, die sie tragen. «Der Schweiss rinnt einem den Rücken hinunter, doch wir haben während der Schicht nicht einmal mehr Zeit, um genügend zu trinken. Wir sind am Abend dehydriert.» Anna erzählt, dass sie manchmal stundenlang nicht aufs WC könne, weil es viel zu lange dauern würde, die Schutzbekleidung aus- und wieder anzuziehen.
Zudem müsse sie die schweren Schicksale verkraften, mit denen sie täglich konfrontiert wird, sagt Anna. «Schlimm ist aber auch, dass wir den Patienten mehr und mehr fast nicht mehr gerecht werden können. Wir haben keine Zeit mehr, sie so zu pflegen, wie wir das nach unseren eigenen Grundvorstellungen eigentlich gerne tun würden. Ich habe den Patienten gegenüber immer öfters ein schlechtes Gewissen.»
«Das Kopfkino läuft permanent»
Abends würde sie gerne um acht Uhr ins Bett gehen, doch sie habe auch Familie, um die sie sich noch kümmere. Und: «Das Kopfkino läuft permanent, ich finde keine Ruhe mehr. Ich brauche meine Freizeit nur noch dafür, um wieder Energie zu tanken, damit ich die nächsten Schichten überstehe.»
Der Gedanke, warum sie sich das noch antue, kommt immer wieder hoch. «Aber es geht hier um Menschenleben. Die Patienten brauchen mich.» Ausgebildetes IPS-Personal sei zudem extrem rar, so dass nach Kündigungen auf die neuen Stellen kaum bis gar keine Bewerbungen mehr eintreffen würden. Deshalb fühle sie sich von der Politik im Stich gelassen: Man wisse ja schon lange um den Fachkräftemangel in Pflegeberufen – doch gemacht worden sei nichts. «Man weiss seit Jahren, dass in der Pflege Personalnotstand herrscht. Das hat sich immer mehr zugespitzt und die Pandemie hat nun das Fass zum Überlaufen gebracht.»
Hundertprozentige Auslastung der Intensivstation wäre «eine Katastrophe»
Sie ärgert sich auch, dass über die Auslastung der Intensivstationen diskutiert wird und darüber, was zumutbar sei. Anna erklärt: «Eine durchschnittlich grosse Intensivstation hat acht, zehn, zwölf Betten. Bei uns ist es so, dass selten ein Platz frei ist und wenn, wird er in kürzester Zeit wieder besetzt.» Oft würden Patienten auch in grössere Spitäler verlegt, um Betten frei zu halten. «Gerade Covid-Patienten kommen in der Regel in einem sehr, sehr schlechten Zustand bei uns an. Es ist eine Frage von Stunden, die sie ohne Behandlung noch leben würden. Nicht von Tagen.»
Eine solche Abteilung könne gar nicht zu 100 Prozent ausgelastet werden, sondern es müssten immer ein, zwei Betten frei sein, um einen Notfall überhaupt aufnehmen zu können. Anna: «Dabei geht es nicht nur um Covid-Patienten. Wir sprechen auch von Unfallopfern, Menschen mit einem Herzinfarkt oder Patienten, bei denen es während einer Operation Komplikationen gibt.» In solchen Akutsituationen sei keine Zeit, ein freies Bett zu schaffen. «Ich glaube, viele Leute verstehen das nicht, wenn sie über diese Zahlen diskutieren. Eine hundertprozentige Auslastung einer IPS ist eine Katastrophe.»
Auf die Frage, ob IPS-Personal in der Schweiz vertraglich dazu verpflichtet worden sei, «Fake News» über die wahren Auslastungszahlen auf ihren Stationen zu verbreiten, antwortet Anna genervt: «Das sind Aussagen, die mir gegenüber auch schon in persönlichen Gesprächen gemacht worden sind. Es sind Behauptungen, die mich unheimlich hässig machen. Menschen, die keine Ahnung von den Zuständen auf den IPS haben, massen sich an, solche Lügen über mich und meine Kollegen zu verbreiten.»
* Name geändert