Auf einen Blick
Man nehme eine Köchin, einen Chef, ein Restaurant. Man lasse die Zutaten ein paar Wochen ruhen. Dann vermenge man sie mit zahlreichen Gästen und Überstunden. Mit einem Schuss Stress, einer Prise Konflikt. Zuletzt lasse man die Masse aufgehen – bis sich eine harte Kruste bildet. Mit tiefen Rissen. «Plötzlich ging gar nichts mehr: der Geruch von Essen, das Geklapper von Besteck, allein der Gedanke an ein Restaurant. Zu Hause konnte ich nicht mehr kochen, nicht einmal in der Küche stehen», sagt Sina Jöhl. Dabei habe sie ihr halbes Leben in Restaurants verbracht. Schon mit zwölf, um Taschengeld zu verdienen. Später als Servicekraft, Köchin, Küchenchefin.
Der Chef schuldet ihr 14’000 Franken
An einem kühlen Wintertag sitzt Sina Jöhl mit dem Rücken zur Küche am Esstisch. Durchs Fenster fallen letzte Sonnenstrahlen, das Ostschweizer Tal ist in Schatten gehüllt. Sie möchte nach vorn schauen – 28 Jahre alt, frisch verheiratet, hochschwanger. Und doch wird sie ständig zurückgeworfen. Der Rechtsstreit mit ihrem ehemaligen Chef dauert an. Über 14’000 Franken schuldet ihr Bruno Odermatt, das bestätigt das erstinstanzliche Gericht. Das Urteil ist aber nicht rechtskräftig, deshalb sind die Namen in diesem Artikel geändert.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Zurück zur Mise en Place, Herbst 2021. Sina Jöhl arbeitet in einem Hotel am Vierwaldstättersee. Eines Abends wird sie nach Schichtende von einer Gastronomin angesprochen. Sie suche eine Küchenchefin für ihren Arbeitgeber, einen beliebten Zentralschweizer Familienbetrieb, der einen Ableger eröffnet. Jöhl, damals 25, fühlt sich geschmeichelt, lehnt aber ab. Das Risiko ist ihr zu gross, noch immer wütet Corona.
Kein einziges freies Wochenende
Und doch geht ihr das Angebot nicht aus dem Kopf. Als die Gastronomin erneut anklopft, sagt Jöhl zu. Die Eröffnung des Restaurants – ursprünglich aufs Frühjahr angesetzt – verzögert sich zwar, trotzdem gibt es im März 2022 viel zu tun. Jöhl plant die Einrichtung, rekrutiert Personal, erstellt Arbeitspläne, kalkuliert Preise, kreiert Rezepte und designt Speisekarten. Das breite Aufgabenfeld entspricht ihr, alle sind motiviert.
Die Stimmung kippt mit der Eröffnung im Juni. Das Restaurant wird überrannt, das Team kann den Andrang kaum stemmen. In der zweiten Juniwoche arbeitet die Küchenchefin sieben Tage am Stück zwischen 11 und 13 Stunden. Ende Monat kommt sie im Schnitt auf 11 Stunden pro Tag – und kein einziges freies Wochenende. Selbst an vermeintlich freien Tagen erledigt sie Büroarbeit. Für Hobbys bleibt keine Zeit, ihren Freund sieht sie kaum noch.
Als zwei von drei Küchenmitarbeitenden krank werden, spitzt sich die Situation zu. Zur selben Zeit verlängert der Chef die Öffnungszeiten. Sina Jöhl sucht mehrfach das Gespräch mit Odermatt und weist ihn auf die Überlastung hin. Vergeblich. Das sieht auch eine Teamkollegin so. «Ich habe Bruno gebeten, mit mir zu sprechen. Er ist nie gekommen. Ich glaube nicht, dass er sich um seine Angestellten kümmert», schreibt sie Jöhl auf Whatsapp.
Der Job macht sie krank
Bruno Odermatt will mit Verweis auf das laufende Verfahren keine Auskunft geben. In den Gerichtsunterlagen weist er die Vorwürfe aber zurück: Mit dem Inhalt des Whatsapp-Chats sei er nicht konfrontiert worden, Jöhl habe sich auch nie beschwert.
Im Juli werden die Überstunden etwas weniger. Dafür harzt es an anderer Stelle: Zwischen der Küchenchefin und einem Kollegen herrscht dicke Luft. Immer wieder kommt es zu Diskussionen, bald hitzig und laut. «Er akzeptierte mich nicht als Vorgesetzte und stellte sich quer. Irgendwann hatte ich Angst, dass der Streit eskaliert», sagt Jöhl. Auch das habe sie ihrem Vorgesetzten gemeldet – was er ebenfalls bestreitet.
Sie wiegt nur noch 39 Kilo
Der Druck äussert sich in Migräne und Panikattacken. Sina Jöhl schläft und isst kaum noch. Manchmal übergibt sie sich vor der Arbeit, bald wiegt sie nur noch 39 Kilo. «Mein Freund flehte mich an, zu kündigen. Aber Aufgeben war keine Option.» Im Juli bittet sie um ein paar Ferientage, doch der Antrag wird abgelehnt. In der Hochsaison sei das nicht möglich.
Ein Besuch ihrer Eltern wird zum Schlüsselmoment. «Bei der Verabschiedung sagte meine Mutter: ‹Es reicht. Du musst jetzt aufhören!›» Kurz darauf sucht sie eine Psychologin auf und wird krankgeschrieben, vorerst für zwei Wochen. Gegen eine längere Pause und die Abklärung eines Burn-outs wehrt sie sich. Nach dem Termin fällt sie ins Bett und steht tagelang nicht mehr auf. «Ich wusste nicht, was ich mit mir und meinem Leben noch anfangen sollte.»
Der Rechtsstreit geht los
Ende Juli zieht sie die Reissleine und kündigt ihren Job per Ende August. Der Schritt bringt Erleichterung, aber keine Besserung. Nach einem weiteren Arztbesuch wird Jöhl für den Rest des Jahres krankgeschrieben – mit der dringenden Anweisung, sich zu erholen.
Zur gleichen Zeit nimmt der Rechtsstreit seinen Anfang. Im September erhält sie zwar ihren letzten Monatslohn, nicht aber das Geld für die offenen Leistungen: 102 Überstunden, 5 Ruhetage, 14 Ferientage, 2 Feiertage. Sie erinnert ihren Chef daran und erhält vier Wochen später einen Anteil am 13. Monatslohn. Mehr nicht.
Sie wäre mit der Hälfte des Betrags zufrieden
Also wendet sie sich an die Kontrollstelle für den Landesgesamtarbeitsvertrag des Gastgewerbes (L-GAV). Diese gleicht die Dokumente beider Parteien ab und bestätigt Jöhls Forderungen. Zusätzlich stellt sich heraus: Da die Taggeldversicherung erst ab 24. September greift, muss der Arbeitgeber für die Übergangszeit 88 Prozent des Bruttolohns bezahlen. Anders als in vielen anderen Branchen gilt das auch dann, wenn das Arbeitsverhältnis vorher endet. Der geschuldete Betrag beläuft sich damit auf 14’000 Franken. Viel Geld für eine junge Gastronomin.
Doch davon will Bruno Odermatt nichts wissen. Als er einen Zahlungsbefehl erhält, erhebt er Rechtsvorschlag. Bei der Schlichtungsbehörde schlägt Jöhl einen Kompromiss vor: Schon mit der Hälfte des geschuldeten Betrags sei sie zufrieden. Zu einer Einigung kommt es trotzdem nicht. Nach der Verhandlung sucht sie sich eine Anwältin. «Meine Klientin ist nach wie vor interessiert, die Angelegenheit gütlich beizulegen», schreibt diese und bittet um Termine für ein Treffen. Weil es dazu nicht kommt, reicht sie im Juli 2023 Klage ein.
Es folgt ein juristisches Pingpong: Vorwürfe werden erhoben, bestritten, gekontert. Bruno Odermatt verteidigt das Arbeitsklima in seinem Betrieb. Er habe nicht gewusst, dass sich die Gesundheit seiner Angestellten derart verschlechtert habe – und wenn das doch der Fall sei, dann hänge das kaum mit der Arbeit zusammen. Vor allem aber weigert er sich, Geld zu zahlen.
Vorwurf: Sie sei selbst schuld
Für September schulde er keinen Lohn, da Jöhl selbst gekündigt habe, meint er. Die Überstunden seien weder angeordnet noch bewilligt gewesen. Zudem sei es Aufgabe einer Küchenchefin, Arbeitspläne zu schreiben und sich zu organisieren – an der Überlastung sei sie selbst schuld. Dazu seien die Stundenblätter ungenau geführt, die notierte Arbeit im Homeoffice fraglich, die Kontrollbehörde nicht zuständig.
Die Anhörung vor dem Gericht findet im Juni 2024 statt, der Unternehmer erscheint nicht. Wenige Minuten nach Beginn postet er ein Selfie in seinen Whatsapp-Status, lächelnd, mit aufgeknöpftem Hemd bei Sonnenschein. Sein Anwalt lässt ausrichten, Odermatt habe den Termin vergessen. Die Verhandlung findet trotzdem statt.
Die Anwaltskosten sind hoch
Der Entscheid folgt im Juli und bestätigt, dass Bruno Odermatt seiner ehemaligen Angestellten 14’560 Franken sowie 6500 Franken für Anwalts- und Gerichtskosten schuldet. Dagegen legt der Unternehmer Berufung ein. Neben inhaltlichen Punkten macht er Verfahrensfehler geltend: Das Gericht habe zu kurze Fristen gesetzt, relevante Aspekte vernachlässigt und sei zu wenig präzis. Nun geht der Fall ans Obergericht.
Odermatt spiele auf Zeit, vermutet Jöhl. «Er zieht das Verfahren absichtlich in die Länge und hofft, dass mir das Geld ausgeht.» Auch zu diesem Vorwurf möchte er sich nicht äussern. Fakt ist: Auch wenn Jöhl recht bekommen sollte – lohnen wird es sich nicht. Bis heute hat sie rund 14’000 Franken für ihre Anwältin ausgegeben, nur ein Bruchteil davon wird wohl erstattet.
Wäre sie vor Gericht gezogen, wenn sie das gewusst hätte? «Nein», sagt sie erst. Dann: «Doch! Nur schon aus Prinzip. Geld und Macht dürfen nicht gewinnen.» In der Gastronomie habe sie immer wieder solche Fälle erlebt. Die Arbeitsbedingungen seien extrem schwierig, sie empfehle jedem eine Rechtsschutzversicherung.
Laut der L-GAV-Kontrollstelle sind Arbeitszeiten und ausstehende Lohnguthaben die häufigsten Klagegründe. Auch die Arbeitnehmerorganisation Hotel & Gastro Union bestätigt, dass sich Konflikte oft um Geld drehen. In manchen Fällen seien die Beträge aber zu klein, als dass sich der Aufwand für einen Rechtsstreit aus Sicht der Betroffenen lohne: «Die Dunkelziffer von Mitarbeitenden, die ihre Rechte nicht geltend machen, wird relativ gross sein.»
Neue Hoffnung
Die Sonne ist inzwischen weg, blinkende Autos rollen durchs Tal. Vor einem Jahr sind Sina Jöhl und ihr Freund wieder in die Ostschweiz gezogen. Weg vom Ärger, zurück zur Familie. Bis zur Verhandlung vor dem Obergericht werden weitere Monate vergehen. «Zum Glück habe ich Ablenkung», sagt sie und legt eine Hand auf ihren Bauch. In wenigen Tagen kommt ihre Tochter zur Welt. Neue Mise en Place: eine junge Mutter, eine Handvoll Ausdauer, eine Prise Hoffnung.