Blick: Sind Sie gerne Lehrerin, Frau Rösler?
Dagmar Rösler: Ich bin jetzt über 30 Jahre Lehrerin und bin es immer noch gerne. Mit Kindern zu arbeiten, ist eine Bereicherung.
Die meisten Lehrpersonen würden das unterschreiben: Sie lieben die Arbeit mit Kindern. Und trotzdem verlassen viele den Beruf.
Eine Studie des BFS widerlegt diese Einschätzung zum Teil. Gesamthaft gesehen bleibt ein grosser Teil im Beruf. Wir merken nun jedoch, dass viele den Beruf nicht mehr Vollzeit ausüben wollen oder können. Das ist ein Problem. Hohe Arbeitsbelastung und gesundheitliche Probleme sind immer häufiger der Grund dafür. Das war schon vor zehn Jahren ein Thema und hat sich seither akzentuiert.
Eine grosse Belastung sind Kinder, welche die Klasse mit ihrem Verhalten derart «terrorisieren», dass ein normaler Unterricht kaum mehr möglich ist.
Es ist tatsächlich so, dass ein oder zwei Kinder durch sehr auffälliges Verhalten die ganze Klasse blockieren können, von terrorisieren würde ich aber nicht sprechen. In der Regel ist es ein Hilferuf dieser Kinder, den man ernst zu nehmen hat. Man muss aber auch sehen, dass eine Klassenlehrperson, die noch 20 andere Schülerinnen und Schüler zu betreuen hat, damit an ihre Grenzen kommen kann.
Und dann?
Sicherlich sollte man möglichst früh versuchen, gemeinsam mit dem Kind eine Lösung zu finden. Das braucht viel pädagogisches Geschick und gelingt nicht von heute auf morgen. Gleichzeitig sollte man mit den Eltern Kontakt aufnehmen. Wenn Eltern mitmachen, hat eine Lösung eine hohe Erfolgschance. Ganz wichtig ist die Zusammenarbeit mit unterstützenden Diensten wie Schulleitung, Schulsozialarbeit und Schulpsychologie. Funktioniert das alles nicht, muss man eine andere Lösung finden.
Also die Sonderschule?
Nicht zwingend. Die Sonderschule kann nur eine Lösung für jene Fälle sein, in denen die Volksschule dem Förderbedarf wirklich nicht mehr gerecht werden kann. Die Sonderschulquote ist in der Schweiz seit langem stabil – bei rund vier Prozent. Man versucht wahnsinnig viel in der Regelschule, bevor es tatsächlich zu einer Separation kommt. Bis dann sind meist Jahre vergangen.
Dagmar Rösler (52) vertritt als Präsidentin des Lehrerverbands rund 50'000 Deutschschweizer Lehrerinnen und Lehrer. Neben ihrer Tätigkeit im Verband unterrichtet die ausgebildete Lehrerin seit über 30 Jahren auf Primarschulstufe und ist an ihrem Wohnort Oberdorf SO als Gemeinderätin tätig. Rösler ist verheiratet und Mutter zweier Teenager.
Dagmar Rösler (52) vertritt als Präsidentin des Lehrerverbands rund 50'000 Deutschschweizer Lehrerinnen und Lehrer. Neben ihrer Tätigkeit im Verband unterrichtet die ausgebildete Lehrerin seit über 30 Jahren auf Primarschulstufe und ist an ihrem Wohnort Oberdorf SO als Gemeinderätin tätig. Rösler ist verheiratet und Mutter zweier Teenager.
Das klingt nach einer enormen Belastung für alle Beteiligten.
Es gibt in der integrativen Schule, die wir nun 20 Jahre leben, viele herausfordernde Situationen. Wir sind nach wie vor dafür, dass möglichst viele Schülerinnen und Schüler in der Regelklasse unterrichtet werden, weil erwiesen ist, dass sie sehr viel vom Umgang mit den anderen profitieren können. Die Integration hat uns auch gezeigt, dass Intelligenz nicht der einzige Weg ist, um später beruflich erfolgreich zu sein. Die Vielfalt in der Schule ist eine grosse Chance für alle unsere Kinder. Aber es gibt klare Grenzen.
Die Kritik an der integrativen Schule nimmt zu, in mehreren Kantonen gibt es Initiativen für eine Rückkehr zu Kleinklassen. Einen Satz habe ich in der Recherche von Fachpersonen immer wieder gehört: Nicht das Konzept der integrativen Schule ist gescheitert, aber die Umsetzung.
(Überlegt) Ich würde sagen, wir haben nun eine Belastungsgrenze erreicht. Wir spüren die Grenze, vor der wir immer gewarnt haben. Für die integrative Schule braucht es ausreichende Ressourcen und Unterstützung. Mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen und Ansprüchen, die heute in einer Klasse zu finden sind, müssten eigentlich zwei Fachpersonen in einem Klassenzimmer sein. Permanent.
Dafür fehlen Ihnen nicht nur Tausende Lehrpersonen, sondern auch ausgebildetes Personal.
Ja. Wir haben seit 20 Jahren beispielsweise zu wenig Heilpädagoginnen und -pädagogen und nicht einmal die Hälfte der heilpädagogisch tätigen Personen ist entsprechend ausgebildet. Jedoch braucht es gerade in der Heilpädagogik fundierte Kenntnisse, man muss mit Verhaltens- und Lernschwierigkeiten gezielt umgehen. Das geht nicht einfach so. Man hat es verpasst, Interessierten frühzeitig die Weiterbildung zu erleichtern. Das rächt sich jetzt.
Inwiefern?
An einigen Schulen sind aus der Not heraus Schulassistenzen für die Betreuung von verhaltensauffälligen oder lernschwachen Schülerinnen und Schülern zuständig – ohne jegliche Fachkompetenzen. Aber solange die Schule stattfindet, sagt man immer, es gehe ja. Das geht nicht spurlos an der Schule vorbei.
Sie sagen, es geht nicht?
Es darf nicht so weitergehen. Dass man jedes Mal verzweifelt ist, wenn jemand kündigt oder pensioniert wird. Ich bin mir sicher: Früher oder später werden die negativen Auswirkungen der Notlösungen sichtbar, in der Heilpädagogik, im Klassenzimmer und beim Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler.
Wie?
Wenn Sie sich den neusten Pisa-Bericht anschauen, in dem die Schweiz gut bis überdurchschnittlich gut abgeschnitten hat, stellen Sie fest, dass die Klassen, die mit häufigen Lehrerwechseln und Notlösungen konfrontiert waren, signifikant schlechtere Leistungen erbracht haben als dort, wo die Situation konstant war und das Personal ausgebildet.
Sprechen wir über Noten: Der Wirtschaftsverband Economiesuisse bemängelt die Aussagekraft der heutigen Zeugnisse und fordert eine einheitliche Benotung. Sind Schulnoten überhaupt noch zeitgemäss?
Das ist meine persönliche Meinung, wir haben im Verband dazu noch keine konsolidierte Haltung: Ich finde nicht, dass Noten in der Primarschule noch zeitgemäss sind. Denn sie suggerieren uns eine Scheingenauigkeit. Eine Zahl sagt nichts darüber aus, was gut war gegenüber dem letzten Mal, wo ich wie viel dazugelernt habe. Es ist immer auch lediglich ein Vergleich innerhalb der eigenen Klasse. In einer leistungsstarken Klasse ist eine schlechte Note weniger schlecht als in einer schwächeren Klasse. Man verwendet heute viel Zeit für Tests und deren Bewertung, und die Wirtschaft sagt nun, es sei kein Verlass mehr darauf. Da muss man sich schon überlegen, was hier nicht gut läuft.
Sie plädieren dafür, dass Lehrpersonen die Stärken und Schwächen der Kinder beschreiben, statt ihnen Noten zu geben. Öffnet das nicht Tür und Tor für noch mehr Diskussionen?
Es kommt auch heute schon zu vielen Diskussionen. Optimal wäre natürlich, wenn wir eine Lösung finden würden, die heutige Beurteilung zeitgemäss zu gestalten.
Wechseln wir das Thema. Psychische Probleme bei Jugendlichen nehmen zu. Wie zeigt sich das in der Schule?
Ich merke, dass junge Menschen heute stärker unter Druck sind, wenn es um ihre Zukunft geht, als früher. Hier haben sicher auch Social Media einen Einfluss.
Wie zeigt sich dieser Druck?
Meiner Wahrnehmung nach ist der Druck auf die Jugendlichen gestiegen, ins Gymnasium zu kommen. Der Druck kommt oft von den jungen Menschen selbst, manchmal auch ganz unbewusst von Eltern.
Eltern, die selber im Gymi waren, wollen, dass ihre Kinder auch ins Gymi gehen.
Man schickt seine Kinder dorthin, wo man selber war, man will für sein Kind ja das Beste. Für viele Akademikerfamilien ist es vermutlich auch die Angst vor einem Abstieg, wenn das Kind nicht ins Gymnasium geht.
Akademikerkinder kommen einfacher ins Gymnasium als Arbeiterkinder oder Kinder mit Migrationshintergrund.
Es ist erwiesen, dass der Bildungshintergrund von Eltern massgeblichen Einfluss auf die Bildungskarriere der Kinder hat. Die Schweiz schneidet in Sachen Chancengerechtigkeit vergleichsweise schlecht ab. Einem intelligenten Kind, das gerne zur Schule geht und gerne lernt, sollte der Weg ins Gymnasium offen sein. Egal, welche Bildung die Eltern haben.
Wie viel Druck ist zu viel?
Das ist sehr individuell. Ich finde, man darf fordern. Aber es darf kein Druck sein, dass das Kind immer und überall das beste sein muss. Ich würde beispielsweise davon abraten, Geld zu geben für gute Noten. Das Wichtigste ist, dass Kinder und Jugendliche sich ihren Fähigkeiten entsprechend entwickeln können.
Bis 2031 werden alleine auf der Primarstufe 13'000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen. Wie wollen Sie Lehrpersonen entlasten und den Beruf wieder attraktiver machen?
Da ist die Bildungspolitik gefragt. Zentral ist, dass man den Lehrpersonen wieder das Vertrauen und die Wertschätzung entgegenbringt, die sie verdienen. Aber auch den gestiegenen Anforderungen, der Heterogenität in den Klassen und den zahlreichen gesellschaftlichen Anforderungen, die in den letzten Jahren der Schule zugeteilt wurden, sollte Rechnung getragen werden. Letztendlich geht es darum, unsere hohe Bildungsqualität auf diesem Niveau zu halten.
Wertschätzung alleine wird es aber nicht tun.
Natürlich braucht es die nötigen Ressourcen. Einige Kantone sind jetzt dabei, die Klassenleitungen zu entlasten. Viele Lehrerinnen und Lehrer sagen, dass das Unterrichten, die Arbeit mit den Kindern, neben alldem, was man sonst noch tun muss – interne und externe Evaluationen, Sitzungen, Unterrichtsbesuche –, zu kurz kommt. Lehrerinnen und Lehrer wollen einfach Zeit für ihre Schülerinnen und Schüler haben.
Sie brauchen mehr Lehrpersonen, Fachkräfte, Schulräume. Wie soll man das alles finanzieren?
Das ist ganz sicher keine einfache Frage. Mir ist bewusst, dass dies für die Gemeinden und Kantone eine grosse Herausforderung ist. Aber wenn man bedenkt, dass es um Kinder und Jugendliche geht, die für ihren Lern- und Lebensweg qualitativ guten Unterricht brauchen, die später unsere Fachkräfte sein werden, dann muss man Möglichkeiten finden, dies zu finanzieren. Schlussendlich ist es eine Investition in die Zukunft unseres Landes.
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