Werner Witschi sitzt. Sitzen ist sein Leben. Werner Witschi (64) aus dem Emmental kann nicht mehr gehen. Seit zehn Jahren. Seit er auf dem Dach einer Sägerei stand, mit einem Bauplan für eine Solaranlage in der Hand. Das war sein Beruf: Solaranlagen planen. Und auf Dächer steigen. Bis er es nicht mehr konnte. Ein falscher Schritt, eine kaputte Faserzementplatte – Werner Witschi fiel sechs Meter in die Tiefe. Als er im Krankenbett zu sich gekommen war, telefonierte er mit seiner Frau und sagte ihr: «Schatz, ich kann reden, der Kopf ist gut, meine Arme sind gut, und bis zum Bauchnabel ist auch alles gut.»
Mike Fuhrmann (47) hat mit Werner Witschi über den Unfall gesprochen. Das ist Fuhrmanns Beruf: Lebensgeschichten verfilmen. Für die Nachwelt. Witschis positiver Umgang mit seinem Schicksal beeindrucke ihn, sagt der Filmemacher. «Das ist inspirierend.» Solche Eindrücke will er für die Nachwelt festhalten. Mike Fuhrmann aus Horgen ZH hat gerade das Unternehmen Eternal Echo gegründet.
Lebensgeschichten als Vermächtnis
Wir Menschen können nicht anders: Wir hinterlassen Spuren. 40'000 Hautzellen verlieren wir jede Minute, mehr als 50 Millionen am Tag. Ein kleiner Luftstrom, der sich bei jedem Schritt unserem Körper entlang hochschraubt, verteilt das Ganze in der Umgebung. Bis zu eineinhalb Tage findet man Hinweise auf unsere Existenz an einem Ort. Doch reicht das den meisten von uns nicht. Wir wollen etwas Bleibendes hinterlassen. Ein neuer Umgang mit der eigenen Vergänglichkeit nistet sich in der Welt ein. Immer mehr Menschen wollen ihre Lebensgeschichte vermachen.
Sie sind alt und tun dies über das Angebot «Mein Nachklang» in Form eines Hörbuchs. Sie sind sterbenskranke Eltern und geben mithilfe des Vereins Hörschatz ihre Geschichte an ihre Kinder weiter. Sie haben einiges erlebt und lassen ihre Familie über eine Autobiografie des Verlags Edition Unik daran teilhaben. Oder sie setzen sich bei Mike Fuhrmann vor die Kamera.
Die Idee reifte nach der Abdankungsfeier seiner Grosseltern. Beide waren innerhalb einer Woche verstorben. Der Priester sprach über deren Leben, als ratterte er ein CV herunter. Eine trockene Abhandlung von Daten zu Geburt, Heirat, Kindern und deren Beruf und Hobbys. Wer diese Menschen wirklich waren, woran sie geglaubt, was sie erlebt hatten – das verschwand mit den beiden im Grab. So ist das bei vielen. Mike Fuhrmann sagt: «Damit geht viel Weisheit und Lebenserfahrung verloren.» Er bewahrt diese. Durch Videos in Dokfilm-Länge von Menschen im hohen Alter, von Angehörigen, die verstorbene Liebste durch ihre Erinnerung aufleben lassen wollen, oder von all jenen, die einfach wichtige Lebensereignisse festhalten wollen.
Nun fährt er mit seinem Equipment vom linken Zürichseeufer, wo er lebt, durch die halbe Schweiz zu Menschen nach Hause. In den Kanton Luzern zur 95-jährigen Frau mit kalkweissem Haar, die sich an ihre Kindheit und Jugend während des Zweiten Weltkriegs erinnert und sich über den Aufstieg der Rechtspopulisten in Europa Sorgen macht und darüber, dass kaum mehr Leute ihrer Generation noch leben, die jetzt sagen könnten: «Das hatten wir schon mal, so und so war das – Obacht!» Oder zum eingangs erwähnten Walter Witschi, der zeigt: Ein Schicksalsschlag bedeutet nicht das Ende. Ihm gehe es sehr gut, sagt er. «Ich habe mich nie über meine Beine definiert.» Was für ihn zählt: Familie. Wenn er einmal nicht mehr da sei, wäre es für ihn das Schönste, wenn seine Töchter sagten: «Papa hat es gut gemacht.»
Zurückschauen als letzte Aufgabe
Die betagte Frau, Walter Witschi – bei Mike Fuhrmann blicken sie zurück. Sie sind in guter Gesellschaft. Wir alle tun das irgendwann. Ganz sicher aber am Übergang in die letzte Lebensphase.
Die emeritierte Psychologieprofessorin Pasqualina Perrig-Chiello forscht seit Jahrzehnten zu Menschen im mittleren und höheren Lebensalter. Kommendes Jahr erscheint ihr Buch «Own Your Age» – mach dir dein Alter zu eigen. Sie sagt: «Dieser Rückblick ist die letzte grosse Entwicklungsaufgabe im Leben eines Menschen.» Im Betagtenalter schrumpft die Zukunft auf Zündholzlänge, das, was war, rückt ganz nah. Wir suchen Erklärungen. Ziehen Bilanz. Schreiben die Geschichte unseres Lebens noch einmal neu und geben uns eine Rolle darin. Das braucht der Mensch, so Perrig-Chiello: «Wir schaffen Sinn aus dem, was war, damit wir am Ende Ja zum vergangenen Leben sagen können.»
Dieser Rückblick gelingt nicht allen gleich gut. Manche hadern. Wie sehr, hat die ehemalige Palliativ-Pflegerin Bronnie Ware im Buch «Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen» aufgeschrieben. Bedauern Nummer eins: sich nicht selbst treu gewesen zu sein und nur gelebt zu haben, wie es andere erwarteten. Weiter: zu viel Arbeit, zu wenig Zeit für die Familie. Freundschaften, familiäre Verbindungen, die man hat einschlafen lassen.
Doch es gibt auch Menschen, die das kurz vor Schluss gar nicht wollen: versöhnlich zurückblicken. Perrig-Chiello sagt: «Sie schliessen das Vergangene innerlich weg, sind hoffnungslos, verzweifelt und haben Angst vor dem Tod.»
Das hat die Palliativmedizin erkannt. Seit den Neunzigerjahren breitet sich dort die an der Würde orientierte Dignity Therapy aus – wörtlich: Würde-Therapie. Ein Therapeut leitet alte und sterbende Menschen in einem Gespräch dazu an, ihr Leben zu reflektieren, ihr Vermächtnis zu formulieren. Das fliesst anschliessend auf Papier, das die Patientinnen und Patienten erhalten. Und mit ihrer Familie teilen können.
Ein neuer Umgang mit der Sterblichkeit
All das macht Sinn. Wir Menschen wissen um unsere Vergänglichkeit. Das haben wir den Tieren voraus. Deshalb ritzen einige ihre Initialen in Parkbänke, hinterlassen Geschreibsel an gekachelten Klo-Wänden, stellen Selfies ins Netz. Subtext: Ich war hier. Wir schaffen Beweise. Gewissermassen tut das auch Mike Fuhrmann. Er lebt durch die Videos weiter. Durch andere. Und das ist neu für ihn: etwas zu schaffen, das über ihn und eine Firma hinausreicht. Dafür schälte er sich aus seinem alten Berufsleben. Er sagt: «Ich war ein Leistungsmensch.»
Das glattgebügelte Hemd, das er bei unserem Besuch trägt, ist ein letztes Überbleibsel. Mike Fuhrmann bewegte sich als Marketingverantwortlicher in den Teppichetagen grosser Firmen. Als seine Frau an Lungenkrebs erkrankte und er auch noch in eine Krise schlitterte, sagte er sich: Es ist genug. Er kündigte und machte eine Coaching-Ausbildung. Vor vielen Jahren hatte er bereits in Los Angeles gelernt, wie man Drehbücher schreibt, und später, wie man Filme daraus macht. Dieser Mix kommt ihm heute zugute. Genauso wie etwas, das man nicht lernen kann: Fuhrmann kennt die Leute, die er filmt, nicht. «Vielen fällt es viel leichter, sich mir als Fremdem zu öffnen als gegenüber den Kindern», sagt er.
Dignity Therapy, Eternal Echo oder Hörschatz – all das spiegelt einen ganz bestimmten Umgang mit der eigenen Sterblichkeit. Mehr noch: mit dem eigenen Tod. Die intensive Auseinandersetzung damit ist Teil eines Trends. Nina Streeck, Medizinethikerin an der Universität Zürich und Autorin des Buchs «Jedem seinen eigenen Tod», erklärt, inwiefern. Sie sagt: «Der Umgang mit dem Sterben ist Moden unterworfen.»
Im Mittelalter war das Leben kurz, der Tod allgegenwärtig. Seuchen rafften ganze Dörfer dahin, es gab nicht genug Priester, um alle Todgeweihten zu betreuen. Was es gab: die «Ars moriendi», die «Kunst des Sterbens», eine Anleitung der Kirche, die die Chancen auf den Himmel erhöhen. Nina Streeck sagt: «Damit war die Vorstellung verbunden, dass am Sterbebett Teufel und Engel um die Seele streiten.» Mit dem Sterbebüchlein konnten die Menschen kurz vor dem Ende beten, ihr Glaubensbekenntnis ablegen und umgeben von ihren Nächsten ohne den Priester das Seelenheil erlangen.
Als der Gottesglauben verschwand, tat dies auch diese kirchliche Sterbekunst. Und die Vorstellung vom Jenseits, davon, was uns später erwartet. Der Blick richtete sich auf das Diesseits. Dort verdrängte im 20. Jahrhundert der Fortschritt den Tod aus der kollektiven Wahrnehmung. Streeck sagt: «Ärzte ersetzten die Seelsorger vom Sterbebett.» Und für diese war der Tod ein Versagen der Medizin. Der Körper, sein Zeugnis, bis dahin in den Stuben aufgebahrt, verschwand als Hauptdarsteller des Todesschauspiels aus dem Blickfeld, er wurde so rasch wie möglich beseitigt.
Friedhöfe wiederbeleben
Heute, so Streeck, sprechen wir noch immer ungern darüber, was nach dem Ableben kommt. Doch das Sterben steht wieder auf der Agenda. Palliativärztinnen und -ärzte sorgen mit Ratgebern für ein Revival des «Ars moriendi»-Sterbebüchleins und landen damit auf Bestsellerlisten. Bestattungsunternehmen bieten Angehörigen an, dabei zu helfen, die Verstorbenen zu waschen und zurechtzumachen. Patientenverfügungen helfen, den Abgang von dieser Welt optimal zu regeln. Und Sterbehilfe bei Schwerstkranken ist so normal geworden wie zum Arztgehen. Doch: Im Unterschied zu ganz früher, als Sterben eine Kollektivaufgabe war, mit gemeinsamen Ritualen, ist es heute ein To-do auf der langen Liste eines jeden Einzelnen.
Mike Fuhrmann macht mit Eternal Echo daraus wieder etwas Gemeinschaftliches. Er will die Verstorbenen zurück zu den Lebenden holen. «Keine Stimme soll in Vergessenheit geraten», sagt er. Und plant, mit Kirchen zusammenzuarbeiten und Friedhöfe einzubeziehen. Diese seien heute Orte der Trauer und der Trostlosigkeit, sagt er. Sie will er beleben. Sein Traum: Gräber mit zugehörigen QR-Codes, über die man die Lebensgeschichten der Verstorbenen als Video abrufen kann. Er sagt: «So würde der Friedhof zu einem Ort der Inspiration.» Und mehr Menschen anlocken. Ein Fest.
Vielleicht würde das für uns Menschen einiges erleichtern. Zumindest wäre es ein Trost. Für Angehörige. Und für uns als Sterbende, ein Stück von uns lebte weiter, wir könnten besser loslassen. Vielleicht ist das die Geburt einer gemeinschaftlichen Totenkultur.