Beunruhigende Studie zeigt
Schweizer Pflegeheime stellen Senioren mit starken Medis ruhig

Es ist ein düsteres Bild, das eine neue Studie von den Schweizer Pflegeheimen zeichnet. Trotz schwerer Nebenwirkungen kommen in Heimen Neuroleptika und andere starke, sedierende Medikamente zum Einsatz. Der Grund: Der Personalmangel im Gesundheitswesen.
Publiziert: 12.05.2022 um 20:02 Uhr
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Aktualisiert: 13.05.2022 um 08:27 Uhr
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In Schweizer Pflegeheimen werden laut einer Studie viele Senioren mit Neuroleptika versorgt.
Foto: Keystone

Wie stark am Anschlag das Gesundheitspersonal ist, ist spätestens seit der Corona-Pandemie bekannt. Eine beunruhigende Studie, welche dem «Tages-Anzeiger» vorliegt, bestätigt diesen Umstand jetzt einmal mehr.

Der noch unveröffentlichten Erhebung zufolge setzen Schweizer Pflegeheime immer häufiger Pillen ein, um die Senioren ruhig zu stellen. Auch Neuroleptika, die eigentlich für Schizophrenie-Patienten oder andere psychotische Erkrankungen vorgesehen sind, kommen regelmässig zum Einsatz. Dies zeigt die Studie, die in über 600 Institutionen durchgeführt wurde und lediglich Senioren einbezog, die nicht unter Schizophrenie leiden.

Senioren erhielten neun oder mehr Medikamente

Die Ergebnisse der Studie, deren Daten 2019 und 2020 erhoben wurden, sind erschreckend: 37 Prozent der Senioren erhielten ein Neuroleptikum. Auch mit zahlreichen anderen Pillen würden die Senioren sediert. 46 Prozent der Senioren erhielten wöchentlich neun oder gar mehr unterschiedliche Medikamente. Und das, obwohl Experten schon ab fünf Arzneimitteln von unerwünschten Wechselwirkungen sprechen.

«Die Zahlen haben auch uns als Experten erschreckt. Diese dürften niemals so hoch sein», sagt Co-Autor Max Giger gegenüber der Zeitung. Dass auch häufiger zu Neuroleptika gegriffen werde, liege laut dem pensionierten Facharzt auch an ihrer lethargischen Wirkung. «Damit lassen sich Betagte, die etwa wegen einer Demenz verwirrt, unruhig oder aggressiv sind, ohne grossen Aufwand ruhigstellen.»

Schuld an diesem Missstand ist der massive Personalmangel im Pflegebereich. Den Bewohnern ein Medikament zu verabreichen, sei Giger zufolge weniger aufwendig und kostengünstiger, als sich persönlich um jeden einzeln zu kümmern. «Dafür fehlen jedoch die personellen Ressourcen in den Pflegeheimen.»

Neuroleptika mit verheerenden Folgen

Auf die Senioren, denen solche Medikamente verabreicht werden, obwohl sie gar nicht an einer psychotischen Erkrankung leiden, habe das verheerende Auswirkungen. Bewohner, die einst umtriebig und aufgeweckt gewesen seien, würden immer ruhiger, gar freudlos.

Neben emotionalen Folgen, hätten Neuroleptika auch gefährliche medizinische Auswirkungen: «Diese können Hirnschläge verursachen, zu Inkontinenz, Schwindel und dadurch zu Stürzen führen. Sie steigern die Mortalität.»

Giger, der auch in der Fachkommission der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter sitzt, hört oft von Kindern, die sich um ihre Eltern im Pflegeheim sorgen. «Etwas stimme nicht, erzählte mir ein Sohn. Seiner Mutter sei oft schwindlig und sie sei ständig müde», so Giger. Als der Sohn ihm erzählte, welches Medikament der Mutter verabreicht wurde, war der Fall klar. Quetiapin gilt als eines der beliebtesten Neuroleptika – dem Arzneimittelreport der Helsana zufolge stiegen die Bezüge in nur vier Jahren um 30 Prozent an.

«Heutzutage arbeitet man nicht mehr menschenorientiert»

Verschiedene Pflegefachpersonen, mit denen der «Tages-Anzeiger» gesprochen hat, bestätigen den hohen Einsatz von Neuroleptika. «Sie werden verteilt, als wären es Bonbons», sagt eine Pflegefachfrau, die anonym bleiben möchte, gegenüber der Zeitung.

Der Grund: «Wir sind zu wenig Leute.» Oft habe man nur kurz Zeit, um Hallo zu sagen – dann müsse man schon wieder ins nächste Zimmer. Viel Zeit, um mit den Leuten draussen spazieren zu gehen oder wirklich Zeit zu verbringen, bliebe da nicht. «Heutzutage arbeitet man nicht mehr menschenorientiert», sagt sie.

Eine andere Pflegefachfrau schildert dieselbe Problematik: «Ich habe selber schon Leuten ein Medikament in den Mund gelegt, wo ich wusste: Aus medizinischer Sicht bräuchte es das nicht. Aber es wirkt beruhigend.» Es sei absolut unwürdig und traurig, eine Alternative gebe es aber nicht – schliesslich müsse sie sich auch um 20 andere Bewohner kümmern.

Curaviva, der Branchenverband der Dienstleister für Menschen im Alter, reagierte im Rahmen eines Leitfadens für Gesundheitsfachpersonen bereits letzten Sommer auf das Problem. In dem Dokument werden die schweren Nebenwirkungen der Neuroleptika erwähnt und Alternativen aufgezeigt. Curaviva-Geschäftsführer Markus Leser zufolge müsse ein personenbezogener Ansatz wieder wichtiger werden. Max Giger sieht es gleich: «Pflegefachpersonen, Ärzte und Apothekerinnen müssen zusammen schauen, was für welche Person am besten ist.» (dzc)

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