Neue Messmethoden
Wissenschaftler entschlüsseln die Sprache von Schmerz

Die Wissenschaft will Schmerz besser verstehen, um ihn gezielter zu behandeln. Dafür arbeiten Ingenieure, Designerinnen und Philosophen mit Ärztinnen zusammen.
Publiziert: 21.02.2025 um 18:20 Uhr
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Aktualisiert: 21.02.2025 um 19:20 Uhr
Schmerzen sind je nach Person unterschiedlich ausgeprägt. (Symbolbild)
Foto: Shutterstock

Auf einen Blick

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Birthe Homann und Daniel Benz
Beobachter

Der Patient liegt im Aufwachraum eines Spitals und würde am liebsten losbrüllen. Er hat eine Operation hinter sich – Quadrizepssehnenruptur. Das tut so weh, wie es klingt. Im linken Knie hämmert es. Frage an ihn: «Welche Schmerzen haben Sie auf einer Skala von 0 bis 10?» Er denkt sich: «Woher soll ich das wissen?» Weil er nicht der Typ tapferer Ritter ist, sagt er: «8 – mindestens.» Später reduziert er den Wert auf 6. Das Hämmern ist zum Pochen geworden. Die Schmerzmittel wirken.

Tanja Frieden, gestählt durch schwere Stürze als frühere Profi-Snowboarderin, hätte die erste Frage vielleicht mit einer 4 beantwortet. Als die 49-Jährige aber letzten Herbst heulend im Notfall landete, verortete sie ihre Rückenschmerzen mit einer 9 – also kaum zum Aushalten. Als Beschreibung in Worten fand sie das Adjektiv «gellend».

«Ziemlich rätselhaft»

Spitäler nutzen die numerische Bewertungsskala, damit Patientinnen und Patienten angeben können, wie intensiv die Schmerzen sind. Bloss: Wie wir Schmerz empfinden, ist subjektiv – was dem einen den Atem raubt, steckt die andere lockerer weg. Und: Versteht die Ärztin unter «gellend» dasselbe wie die Patientin? 

Artikel aus dem «Beobachter»

Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.

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«Unser Schmerzverständnis ist nach wie vor ziemlich rätselhaft», sagt Kevin Reuter, der sich als Philosoph an der Universität Zürich damit befasst. Laien und Fachleute redeten oft aneinander vorbei. Das könne zu Fehldiagnosen führen.

Digitale Entscheidungshilfe

Neuroingenieurin Noemi Gozzi tut etwas dagegen. Am Zürcher ETH-Campus Balgrist forscht die Doktorandin an den körperlichen und psychosozialen Anteilen von Schmerz. Mit neuen Methoden und Algorithmen will sie diese unterscheiden und bestimmen. Damit möchte sie eine digitale Entscheidungshilfe für die Ärztinnen und Ärzte bieten.

Gozzi und ihr Team setzten die Haut von Versuchspersonen Hitzeimpulsen aus, um die körperliche Reaktion auf Schmerz zu erfassen. Dazu werden die Hirnströme und die Leitfähigkeit der Haut gemessen. Zu den psychischen Auswirkungen des Schmerzes befragte das Team die Teilnehmenden. Künstliche Intelligenz wertete die enormen Datenmengen aus. So kann Gozzi die beiden Schmerzkomponenten klar unterscheiden. Die psychosoziale Komponente zeigt, wie stark der Schmerz durch emotionale und psychische Faktoren verstärkt wird.

Opioide einschränken

Heute werden in der Medizin der Schmerz und sein Ausmass relativ einfach anhand der Beschreibungen der Patientinnen und Patienten bestimmt. Laut Noemi Gozzi führt das dazu, dass zu schnell Opioide verschrieben werden. Diese starken Schmerzmittel können abhängig machen.

Das will die 29-jährige Italienerin ändern. «Unsere Methode erlaubt es, den Schmerzzustand genauer zu charakterisieren, um besser zu entscheiden, welche gezielte Behandlung nötig ist», sagt sie zum Beobachter. Weg von Schmerzmitteln, hin zu individueller Therapie.

Auf der Grundlage dieser Studie entwickelte das Team eine App für den Hausgebrauch. Sie läuft auf einer speziellen Armbanduhr und befragt die Patientinnen und Patienten mehrmals täglich. Zum Beispiel zu Schlafqualität und Schmerzzustand. Eine künstliche Intelligenz ermittelt aufgrund der Daten, wie die Ärztinnen die Schmerztherapie optimieren können. Die klinische Studie läuft zurzeit in mehreren Spitälern in der Schweiz und in Italien. 

Michèle Hubli von der Universitätsklinik Balgrist arbeitet mit Noemi Gozzi zusammen. Die Schmerzforscherin und ihr Team begleiten die Patienten und stehen im engen Austausch mit ihnen. Die Neuroingenieure um Gozzi liefern die Methode zur Datenauswertung. «Der neue Ansatz ist spannend, aber noch weit weg von der Anwendung im Alltag», so Hubli.

Wissenschaft und Praxis im Austausch

«Es ist wichtig, den Schmerz besser zu verstehen», sagt Marc Suter vom Schmerzzentrum des Unispitals Lausanne zum Beobachter. Der Anästhesist ist Präsident der Swiss Pain Society. Sie treibt die Forschung rund um Schmerztherapien voran und fördert den Austausch von wissenschaftlichen Erkenntnissen und praktischen Erfahrungen im klinischen Alltag. 

Dabei gebe es keine Patentrezepte, so Suter. «Eine multidisziplinäre Betreuung etwa mit Physiotherapie, Akupunktur oder psychologischen Massnahmen ist nebst den Medikamenten sinnvoll.» Grundsätzlich gehe es darum, das Schmerzverständnis aus verschiedenen Blickwinkeln anzuschauen.

Visuell kommunizieren

Dabei wird das Terrain der Wissenschaft auch einmal verlassen. Am spielerischsten versucht die Berner Kommunikationsdesignerin Sabine Affolter, dem Schmerz auf die Spur zu kommen. Sie hat in Zusammenarbeit mit medizinischen Fachpersonen die Methode der Dolografie entwickelt, «eine visuelle Kommunikationshilfe für die Schmerztherapie», wie sie dem Beobachter erklärt. Das Prinzip: Bilder animieren zu einem präzisen und differenzierten Sprechen über den Schmerz.

Beschreiben silberne Blitze auf schwarzem Grund die Schmerzen am besten? Oder der grelle Farbenwirrwarr? Ein wabernder Nebel? Betroffene können aus einem Set von 34 Bildern das treffendste auswählen und das danach begründen. 

Den Schmerz greifbar machen

Jens Christoph Türp vom Universitären Zentrum für Zahnmedizin Basel arbeitet seit längerem mit der Dolografie. Er ist überzeugt, dass sie gründlichere Diagnosen ermöglicht, «weil die Patienten bei der Beschreibung der ausgewählten Karten relevante Sachverhalte mitteilen, die sonst unbekannt geblieben wären». Dieser Befund wurde auch durch eine Studie untermauert.

Die 2016 eingeführte Dolografie-Methode hat sich vor allem im deutschsprachigen Europa gut etabliert, sagt Kommunikationsdesignerin Sabine Affolter. Auch wegen ihrer therapeutischen Wirkung: «Wenn Betroffene ‹ihren› Schmerz bildlich vor sich haben, wird er greifbarer – für sie selber ebenso wie für ihre Ärztinnen und Ärzte. So fühlen sie sich verstanden und ernst genommen.»

Im Gehirn? Oder doch im Knie?

Weniger Missverständnisse in den Sprechzimmern: Das will auch Kevin Reuter, der Philosoph mit dem Faible für Schmerz. In seiner Forschung geht er der Frage nach, wie Leute über Schmerzen denken und sprechen. Dazu macht der 46-jährige Zürcher Uniprofessor Experimente mit Probanden, befragt Personen, durchforstet riesige Datensätze, erstellt Statistiken. 

Reuter vergleicht das Alltagsverständnis von Schmerz mit den Ansichten der Fachwelt. In der medizinischen Lehrmeinung gehe man klassischerweise davon aus, dass Schmerzen mentale Zustände sind, erklärt er – also etwas, was sich im Gehirn abspielt. «Wenn ich aber höre, wie Laien über Schmerzen denken, passt das nicht zusammen», sagt er zum Beobachter. Denn wenn die Patientin schildere, wo es ihr wehtut, dann zeige sie auf einen Körperteil. Aufs Knie, auf den Rücken, den Zeh. «In der Wahrnehmung der Betroffenen sitzt der Schmerz dort, nicht im Kopf.»

«In der Diagnostik läuft vieles schief»

Dass die Konzeptionen von Schmerz derart unterschiedlich sind, ist für Kevin Reuter weit mehr als eine philosophische Grübelei, sondern ein Hinweis auf ein handfestes Problem. «In der Diagnostik läuft vieles schief, weil die Ärzte aufgrund ihres eigenen Verständnisses entscheiden.» Unwirksame Behandlungen oder falsche Medikamentenwahl könnten die Folge sein, befürchtet er.

Laien und Fachpersonen müssen besser über Schmerz reden, fordert Reuter. Dabei geht er selber voran: Derzeit plant er mit dem Unispital Zürich ein Projekt, bei dem er die Sprache von Migränepatienten analysiert, um genauere Diagnosen zu ermöglichen. Daneben hält er Vorträge mit dem Ziel, Ärzteschaft und Pflegepersonal für das Thema zu sensibilisieren.

«Fühlen» und «haben»?

Wenn sie dem Philosophen genau zuhören, bekommen sie ganz praktische Infos mit auf den Weg. Etwa über die feine Unterscheidung zwischen «Schmerzen fühlen» und «Schmerzen haben» – kein Detail, sondern wichtig für die Behandlung. Reuter erklärt: «Bei mildem Schmerz reden die Leute von ‹fühlen›. Wenn der Schmerz intensiv ist, sagen sie: ‹Ich habe Schmerzen.›» Das gehe aus den Textsammlungen, die er analysiert habe, mit hoher Treffergenauigkeit hervor. 

So aussagekräftig wie eine 4 oder eine 8 auf der numerischen Bewertungsskala in den Spitälern ist das allemal.

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