Es ist tief in der Nachspielzeit, als Atalanta Bergamo gegen Sassuolo noch einmal einen Eckball ausführen darf. Alles auf Sieg. Normalerweise würde sich Giancarlo Sciurti (50) nicht für dieses Spiel interessieren. Er ist Interista, glühender Anhänger des Mailänder Klubs Inter. Doch am vergangenen Sonntag ist das anders.
Draussen wärmt die Sonne den Betonvorplatz auf, aber Sciurti sitzt in Kloten ZH in seiner dunklen Einzimmerwohnung im Erdgeschoss vor dem Computer. Ein Stolperer von Atalanta macht Inter zum 19. Mal zum Meister. Nach elf langen Jahren des Wartens. Sciurti hat Tränen in den Augen.
«Das bedeutet so viel für mich»
Um 16.51 Uhr ist es dann so weit: Atalanta spielt nur Remis, macht Inter damit im Fernduell zum Meister. In Mailand (I) brechen alle Dämme. Vor dem Dom treffen sich die Fans zu Tausenden und feiern den so ersehnten «Scudetto». Und Sciurti? Via Livestream verfolgt er die Szenen. Zu Blick sagt er: «Ich würde diesen Titel so gerne in Mailand mitfeiern. Das bedeutet so viel für mich!»
Mit dem Triumph der Nerazzurri endet ein Leidensweg für den Tifoso. Ein anderer dauert aber weiter an. Im Sommer 2008 stand auch der gebürtige Aargauer auf dem Rasen. Es war nicht das San Siro zu Mailand, sondern nur ein Grümpelturnier im Zürcher Oberland. Es sollte für Sciurti schmerzhaft enden. «Bei einer Drehung blieb ich mit den Nocken im Rasen hängen.» Doppelter Fussbruch, Bänderriss. «Seither ist mein Fuss kaputt», sagt Sciurti.
Als hätte jemand einen Schalter umgelegt
Seit dem Unfall leidet der 50-Jährige an seinem linken Knöchel an Arthrose. Fussball, seine Leidenschaft, gibts seither nur noch am Bildschirm. Psychisch setzt Sciurti die Verletzung zu. Er fällt in ein Loch, verliert seine Stelle als Versicherungsvermittler. «Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Plötzlich ging alles nur noch schief.»
Immer wieder versucht Sciurti den Schritt zurück in die Arbeitswelt. Doch sein Fuss steht ihm immer wieder aufs Neue im Weg. So zuletzt bei einem Job im Logistikbereich bei der Post. «Nach einigen Monaten schaffte ich am Abend kaum noch den Weg nach Hause, weil die Schmerzen so gross waren.» Seither ist Sciurti auf Sozialhilfe angewiesen.
Zurück auf die Sonnenseite
Aufgeben will der Interista aber nicht. Er will es wie sein Herzensverein machen und nach düsteren Jahren wieder auf die Sonnenseite finden. Seine Familie stamme aus Lecce, erklärt Sciurti. «Wenn wir etwas haben, dann einen unbezwingbaren Willen.»
Am 23. Mai bestreitet Inter das letzte Spiel der Saison zu Hause gegen Udinese. Giancarlo Sciurti wird dann wieder vor dem Bildschirm sitzen, sich mitfreuen und in Gedanken den Pokal mit in die Höhe stemmen. «Ich würde von mir aus auch nach Mailand laufen, wenn der Fuss es zulassen würde.»