Die Corona-Impfung, aus der Not geboren, ist zur medizinischen Sensation geworden: Nur elf Monate lagen zwischen der Entschlüsselung des Viruserbguts und der Zulassung des ersten Vakzins – inklusive Entwicklung und klinischen Tests.
Heute sorgen die Impfstoffe für eine Rückkehr aus der Pandemie in die Normalität. Millionen geniessen bereits ihren Schutz. Kein Zweifel, dass es in absehbarer Zeit Milliarden in aller Welt sein werden. Und das ist noch längst nicht alles: Die mRNA-Wirkstoffe – darin ist sich die Wissenschaft einig – werden die Medizin revolutionieren. Mit Hochdruck arbeiten Hersteller der mRNA-basierten Covid-Impfungen wie Biontech und Moderna sowie Curevac, das älteste auf mRNA-Forschung spezialisierte Unternehmen, an weiteren Anwendungen. Arzneimittel gegen Krebs, Tropenkrankheiten und Diabetes sind denkbar. Sogar Multiple Sklerose und Alzheimer sollen künftig mit mRNA-Therapien geheilt werden können. Das neue Verfahren ist nicht vom Himmel gefallen. Möglich wurde es durch jahrzehntelange Grundlagenforschung – inklusive Rückschlägen, Geldmangel und fehlender Anerkennung.
Covid-19-Impfung erst der Anfang
Mit dem Impfwunder von heute geht für viele Forscher ein langer Leidensweg zu Ende. Wenige glaubten an das Potenzial des neuen Verfahrens. Doch die Hartnäckigsten sollten recht behalten. So wie Steve Pascolo (50), Molekularbiologe an der Universität Zürich. Der gebürtige Franzose forscht seit mehr als zwanzig Jahren an mRNA-Impfstoffen und war massgeblich an der Entwicklung des Verfahrens beteiligt. Er sagt: «Die Vakzine gegen Covid-19 sind erst der Anfang.»
Igor Splawski, Forschungschef bei der deutschen Curevac, erläutert das verblüffende Konzept: «Durch die mRNA-Technologie sind wir in der Lage, dem Körper direkt die Information zu geben, die er benötigt, um Krankheiten bekämpfen und gegebenenfalls sogar heilen zu können.»
Vielseitige Technologie
Molekularbiologe Pascolo ergänzt: «Wir werden die Technologie in Zukunft gegen fast jeden Krankheitserreger einsetzen können.» Obwohl die Technologie zu weiten Teilen noch in den Kinderschuhen steckt, seien ihrer Anwendung kaum Grenzen gesetzt.
Schon jetzt ist es nur eine Frage der Zeit, bis mRNA-Impfungen die herkömmlichen Grippevakzine ablösen. Nach wie vor entstehen Influenza-Impfstoffe in Hühnereiern, die Herstellung dauert Monate – bei Versorgungsengpässen oder dem Auftauchen neuer Grippeviren lassen sich traditionelle Grippe-Impfstoffe deshalb nicht unmittelbar nachproduzieren. Im Vergleich dazu sind mRNA-Vakzine einfach herzustellen, günstiger und schnell anzupassen.
Steve Pascolo: «Angesichts des Erfolgs des Corona-Impfstoffs ist es naheliegend, direkt zur Grippe überzugehen.» Im Prinzip lasse sich in zwei bis drei Monaten ein Impfstoff gegen jedes beliebige Virus herstellen, sagt der Molekularbiologe. Ein Blick in die Entwicklungsabteilungen der Biotech-Unternehmen zeigt: Einige Präparate befinden sich in den letzten Tests und stehen bereits vor der Marktreife.
Sogar HIV-Impfstoff?
Das mRNA-Verfahren könnte sogar bei der Entwicklung eines HIV-Impfstoffs entscheidend sein, «da es das Immunsystem im Vergleich zu derzeitigen Bestrebungen auf unterschiedliche Art aktiviert», sagt Curevac-Forschungschef Igor Splawski. Allerdings ist das noch Zukunftsmusik.
Wirkstoffe auf mRNA-Basis können nicht nur Viren killen, sondern auch Parasiten wie dem Erreger von Malaria Paroli bieten – der weltweit häufigsten Infektionskrankheit, an der jährlich etwa 400'000 Menschen sterben, davon 270'000 Kinder. Splawski bestätigt, dass Curevac daran arbeitet, mittels mRNA den «Schutz vor einem Malaria-Antigen zu verbessern».
Auch in der Krebsbehandlung erwarten Mediziner von der mRNA-TechnikFortschritte. Die neuen Impfstoffe sollen das körpereigene Immunsystem so programmieren, dass es bösartige Tumorzellen überall im Körper erkennt und eigenständig zerstört.
Mehr zu mRNA-Impfstoffen
Geduld ist gefragt
Doch es braucht Geduld. «Das Potenzial ist sehr gross», sagt Thomas Cerny, Onkologe und Präsident der Krebsforschung Schweiz. Doch gerade beim Kampf gegen Krebs seien die Erwartungen teilweise überrissen. Die neue Technologie allein werde es nicht richten. «Sie stellt aber eine weitere, wichtige Option im Kampf gegen Krebs dar.»
Und doch: Jedes weitere Element in der Behandlung von Krebs ist eine frohe Botschaft. Die Zahl der Menschen, die daran sterben, nimmt stetig zu. Letztes Jahr wurden in der Schweiz über 42 000 neue Krebsfälle registriert. Aufgrund der älter werdenden Bevölkerung dürften Neuerkrankungen weiter zunehmen. Die mRNA-Technik könnte helfen, die Not zu lindern und die Kosten zu senken.
Am Anfang der mRNA-Forschung stand die Onkologie. Schon seit 20 Jahren beschäftigt sie sich mit der neuen Technologie. Im Bereich der Krebsimmuntherapie gelangen in den letzten Jahren immer grössere Fortschritte. Ohne diese Grundlagen wären das Corona-Impfwunder und der damit verbundene Schub für die mRNA-Methode undenkbar.
Auch gegen Autoimmun- und Erbkrankheiten
Langfristig soll das Verfahren auch bei Autoimmun- und Erbkrankheiten zum Einsatz kommen. So etwa bei Multipler Sklerose (MS), einer Erkrankung des zentralen Nervensystems, die zu Lähmungen, Geh- und Sehstörungen führen kann. Noch weiss niemand, wie die Krankheit entsteht, ein Heilmittel existiert nicht.
Dann meldete das deutsche Unternehmen Biontech Anfang des Jahres einen Durchbruch. Den Forschern gelang es, die Entstehung einer MS-ähnlichen Erkrankung bei Mäusen durch einen entzündungshemmenden mRNA-Impfstoff zu unterdrücken. Doch was bei Nagetieren funktioniert, ist nicht ohne weiteres auf Menschen übertragbar.
Immunbiologin Britta Engelhardt, MS-Spezialistin an der Universität Bern: «Ein solches Experiment macht falsche Hoffnung. Die Forscher wissen im Tiermodell genau, wie die Erkrankung ausgelöst wird und daher auch welche autoaggressiven Zellen sie mit dem mRNA-Impfstoff ansteuern mussten. Bei der MS haben wir noch keine Ahnung, was der Auslöser der Erkrankung ist, und daher haben wir auch keine klare Zielstruktur für einen mRNA-Impfstoff.»
Vielversprechend
Engelhardts Fazit: «Der untersuchte mRNA-Impfstoff könnte möglicherweise vielversprechend sein, aber es wird Jahre dauern, bis er sicher genug wäre, um ihn in einer klinischen Studie an MS-Betroffenen zu testen.»
Wie schnell die neuen mRNA-Therapien auf den Markt kommen, hängt nicht nur vom Forscherdrang ab.Die Wissenschaft braucht Geld, viel Geld. Auch die Schweiz will bei der mRNA-Technologie mitspielen. Dafür steckt der Bundesrat rund 50 Millionen Franken in ein Förderprogramm. Angesichts der Kosten auf diesem Gebiet eine lächerlich niedrige Summe.
Im Ausland hat der mRNA-Zug mit Milliarden-Subventionen längst Fahrt aufgenommen – die Schweiz droht bereits den Anschluss zu verpassen.
Für die in gewissen Kreisen verbreitete Angst, mRNA-Impfstoffe könnten das menschliche Erbgut verändern oder falsche Immunantworten auslösen, gibt es keinen plausiblen Grund. Die RNA aus der Impfung gelangt zwar in Körperzellen, sonst würde die Immunisierung nicht gelingen. Doch der Zellkern, wo sich das Erbgut befindet, kommt mit dem Wirkstoff nicht in Kontakt. Und: Unser Erbgut besteht aus DNA. Ein Enzym, das RNA (ein Strang) in DNA (zwei Stränge von Erbinformation) umbauen könnte, gibt es in menschlichen Zellen nicht. Die DNA bleibt also unangetastet.
Für Verwirrung sorgt auch der Begriff Vakzination, abgeleitet vom lateinischen Wort vacca (Kuh). Im Jahr 1796 wurde der erste Mensch mit Kuhpocken gegen menschliche Pocken immunisiert, eine der gefährlichsten Krankheiten jener Zeit. Eine denkbare mRNA-Impfung gegen Krebs funktioniert anders – sie wäre eine Therapie, die das körpereigene Immunsystem so programmiert, dass es bösartige Tumorzellen im Körper erkennt und eigenständig zerstört.
Bei diesem Verfahren handelt sich nicht um einen prophylaktischen Schutz wie dem gegen Pocken oder Corona. Man wird sich also auch in Zukunft nicht einfach vorbeugend gegen Krebs impfen lassen können.
Für die in gewissen Kreisen verbreitete Angst, mRNA-Impfstoffe könnten das menschliche Erbgut verändern oder falsche Immunantworten auslösen, gibt es keinen plausiblen Grund. Die RNA aus der Impfung gelangt zwar in Körperzellen, sonst würde die Immunisierung nicht gelingen. Doch der Zellkern, wo sich das Erbgut befindet, kommt mit dem Wirkstoff nicht in Kontakt. Und: Unser Erbgut besteht aus DNA. Ein Enzym, das RNA (ein Strang) in DNA (zwei Stränge von Erbinformation) umbauen könnte, gibt es in menschlichen Zellen nicht. Die DNA bleibt also unangetastet.
Für Verwirrung sorgt auch der Begriff Vakzination, abgeleitet vom lateinischen Wort vacca (Kuh). Im Jahr 1796 wurde der erste Mensch mit Kuhpocken gegen menschliche Pocken immunisiert, eine der gefährlichsten Krankheiten jener Zeit. Eine denkbare mRNA-Impfung gegen Krebs funktioniert anders – sie wäre eine Therapie, die das körpereigene Immunsystem so programmiert, dass es bösartige Tumorzellen im Körper erkennt und eigenständig zerstört.
Bei diesem Verfahren handelt sich nicht um einen prophylaktischen Schutz wie dem gegen Pocken oder Corona. Man wird sich also auch in Zukunft nicht einfach vorbeugend gegen Krebs impfen lassen können.