Corona hat uns die Verwundbarkeit der Menschheit vor Augen geführt. Aber auch ihre Innovationsfähigkeit. Jetzt geht es darum, aus beidem die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die Innovationsfähigkeit sollte nicht mehr erst dann mobilisiert werden, wenn uns das Wasser womöglich schon bis zum Hals steht.
Wir sollten versuchen, uns gegen weiteres Unheil frühzeitig zu impfen. Und wir haben die Chance dazu.
Ende Januar stellte SonntagsBlick den Molekularbiologen Steve Pascolo vor. Der 50-Jährige hat sein Forscherleben der Entwicklung von mRNA-Medikamenten verschrieben. Ebenso lange musste er um Anerkennung und ein paar Franken aus den Fördertöpfen kämpfen. Der Mann, der 2004 den allerersten wissenschaftlichen Übersichtsartikel über die mRNA-Technologie publizierte und der sich 2006 als erster Mensch überhaupt synthetische mRNA injizierte, arbeitet heute als Privatdozent an der Dermatologischen Klinik des Unispitals Zürich. Eine akademische Weltkarriere sieht anders aus.
Inzwischen kennt der ganze Globus das Potenzial der mRNA-Methode. Wer eines letzten Beweises bedarf, dem hilft ein Blick nach Grossbritannien. Dort kommt mit dem Serum von Astrazeneca ein konventioneller, virusbasierter Impfstoff gegen Corona zum Einsatz – der weit weniger vor Mutationen schützt als die mRNA-Vakzine von Biontech und Moderna (und der ausserdem mehr Nebenwirkungen hat).
Nach dem sensationellen Erfolg gegen Covid rücken nun zahlreiche weitere Anwendungsmöglichkeiten dieser neuen Technologie in den Fokus. Einige mRNA-Arzneien verheissen zumindest langfristig grosse Profite, namentlich, wenn es um Therapien bei Krebs oder Multipler Sklerose geht.
Weniger lukrative Bereiche dürfte die Pharmaindustrie links liegen lassen. Hier eröffnet sich ein wichtiges Betätigungsfeld für den Staat. Nur ein Beispiel: Künftig könnten mRNA-Impfstoffe vor den häufigsten bakteriellen Infektionskrankheiten schützen, etwa Lungen-, Mandel- und Hirnhautentzündungen. Noch lassen sich viele dieser Leiden mit Antibiotika kurieren, doch deren Wirksamkeit sinkt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) befürchtet, ab 2050 könnten jährlich zehn Millionen Menschen an Bakterien sterben, die gegen Antibiotika resistent sind. Das wären fast dreimal mehr Tote, als Covid bisher gefordert hat.
Die USA und China stecken derzeit Milliarden in die mRNA-Forschung. Dort hat man erkannt, welche medizinische Revolution sich hier mutmasslich gerade anbahnt, und betreibt eine aktive Industriepolitik. Geradezu kümmerlich nehmen sich da jene 50 Millionen Franken aus, die der Bundesrat im Mai gesprochen hat, um unser Land als Standort für mRNA-Impfstoffe zu etablieren. Wäre es der Regierung wirklich ernst damit, hätte sie längst die Gründung eines nationalen mRNA-Instituts bekannt gegeben und Steve Pascolo wäre dessen Leiter.
Die helvetische Realität präsentiert sich derweil wie folgt: Pascolo hat von der EU und vom Nationalfonds die Mittel erhalten, um für die kommenden zwei Jahre ein kleines Forscherteam auf die Beine zu stellen. Nun sucht er ein geeignetes Labor, doch weder die Uni noch das Universitätsspital Zürich sind diesem Wunsch bisher nachgekommen.
Alles deutet darauf hin, dass die Eidgenossenschaft die Chance verpasst, bei einer medizinischen Revolution vorne mitzutun und ihren Beitrag zur Impfung der Welt zu leisten. Wie war das mit der Schweiz als Wissenschaftsnation? Steve Pascolo und seine fünf Forscherkollegen stehen sich in einem Labor gegenseitig auf den Füssen herum, das für drei Mitarbeiter ausgerichtet ist.