Der 22. Dezember ist ein wichtiger Tag für die Kinder im Verzascatal. Wochenlang wurde das traditionelle Krippenspiel vorbereitet, die Kostüme genäht, an der Kulisse gebastelt. Auch Sara B.* (8) darf mitmachen. Die kleine Afghanin tritt als Engel auf. Ihre Augen leuchten wie der glitzernde Weihnachtsschmuck in der Kirche.
«Sie ist so ein aufgewecktes Kind, lernt schnell Italienisch und kommt gut im Unterricht mit», sagt ihre Lehrerin Bianca Soldati (34) zu Blick. «Auch Saras Mutter nimmt teil an unserem Alltag, bietet ihre Hilfe an, geht mit dem Hund einer Rentnerin Gassi oder macht Handarbeiten. Sie ist glücklich, wenn sie etwas zurückgeben kann», stellt Cousine Veronica Soldati fest. Sozialarbeiterin Valentina Matasci (38) ist beeindruckt von Anna B.* (32), Saras Mutter: «Sie will unbedingt unsere Sprache lernen. Sie will sich rasch integrieren und hat schon viele Freunde».
Über vier Jahre auf der Flucht
Doch die Idylle wird durch ein Einschreiben überschattet, das nur einen Tag vor dem Krippenspiel bei Anna B. eingeht. Absender: das Staatssekretariat für Migration (SEM). Ihr Asylgesuch wurde abgelehnt. Anna B. und ihr Töchterchen sollen gleich nach Weihnachten die Schweiz verlassen, heisst es im Brief aus Bern. Fünf Tage Zeit hat die Afghanin, um gegen die Entscheidung zu rekurrieren.
Für die beiden Asylbewerberinnen ist der Brief ein Schock. Seit über vier Jahren ist Anna B. mit ihrem Kind auf der Flucht. In Afghanistan wurde sie von ihrem gewalttätigen Ehemann bedroht. Über die Türkei kam sie nach Griechenland. Dann kämpfte sie sich über die Balkanroute bis nach Slowenien. Dort nahm man ihre Fingerabdrücke. Über die Wälder gelangte sie nach Italien. In Chiasso TI fragte sie nach Asyl. Das war im November 2021. Im März 2022 kamen die beiden zum ersten Mal ins Verzascatal.
«Es sind sehr liebenswürdige Menschen», sagt Barbara Mutti (53) vom Ristorante Froda. In den Fremdenzimmern werden Asylbewerber untergebracht. Auch Anna B. und ihre Tochter ziehen ein. Die Wirtin, von allen «Beba» genannt, erinnert sich: «Die Augen der Mutter waren voller Trauer. Aber die Kleine versprühte Hoffnung».
Anna und Sara wurden schon einmal abgeschoben
In der Nacht auf den 19. Mai 2022, gegen zwei Uhr, holen fünf Polizeibeamte Mutter und Kind aus dem Schlaf. Sie werden nach Slowenien geschafft. Da sie dort als das erste Mal auf EU-Boden registriert wurden, sollen sie, wie im Dublin-Abkommen festgelegt, auch dort um Asyl bitten. Doch Slowenien ist von Flüchtlingen überflutet. Die Menschen werden nicht versorgt. Anna B. und Sara B. leben als einzige Frauen im Männertrakt. «Sara wurde krank. Sie ass nichts mehr. Wir konnten nicht bleiben», sagt Anna B. zu Blick.
Die Afghanin nimmt erneut die riskante Reise durch die Wälder auf sich, durchquert Norditalien und beantragt im Oktober 2022 an der Tessiner Grenze erneut Asyl. Wieder landet sie im Verzascatal. Die Bewohner nehmen sie mit offenen Armen auf. Fortan gehören die beiden dazu. Die herzlose Entscheidung des SEM sorgt für eine Welle der Empörung – und für unerwartet heftigen Widerstand gegen den Asylentscheid.
Über 2700 Unterschriften in nur fünf Tagen
Über Weihnachten gelingt es, über 2700 Unterschriften zu sammeln. Dreimal mehr, als das Tal Einwohner hat. Erst werden Listen im Dorfladen in Brione TI ausgelegt. «Wir sind ein Treffpunkt im Tal. Die Leute konnten ihre Unterschrift in die Liste eintragen», sagt Franziska Werthmüller (53) und erinnert sich, «manche nahmen stapelweise Kopien mit, um weitere Unterschriften zu sammeln». Sie selbst finde die Entscheidung des SEM einfach nur absurd.
Saro di Martino (57) und Giorgio Matasci (70) aus Brione TI sind erschüttert. «Solche Dinge dürften heute nicht mehr passieren», sagt der Besitzer des B&B am Platz. Und der Pensionär fügt hinzu: «Das Problem liegt allein in Bern.» Im Verzascatal sei genug Platz für zwei Afghaninnen. Auch Pfarrer Don Marco (63) ist empört. Man müsse den Menschen über die Vorschrift stellen, «sogar Jesus hat gegen die Regeln verstossen und den Menschen in den Mittelpunkt gestellt».
Wegweisung im Rahmen des Dublin-Verfahrens
Im Endspurt landet die Petition im Netz. Es kommen schliesslich über 2700 Unterschriften zusammen. Der prominente Tessiner Anwalt Paolo Bernasconi (79) vertritt Anna B. und ihre Tochter, reicht rechtzeitig Einsprache gegen den Asylentscheid ein. Selbst das Bundesverwaltungsgericht weist noch kurz vor Jahreswechsel die kantonalen Instanzen an, vorläufig auf den Vollzug der Wegweisung zu verzichten.
Doch das SEM bleibt hart. Auf Anfrage des Blicks antwortet die Bundesbehörde: «Das SEM hat diesen Einzelfall mit der notwendigen Sorgfalt und unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände geprüft und ist zum Ergebnis gelangt, dass eine Wegweisung im Rahmen des Dublin-Verfahrens anzuordnen ist.»
* Namen geändert
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