Das denken Davoser über orthodoxe Juden
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Davoser über orthodoxe Juden:«Es ist ein anderer Kulturkreis»

«Mühe, die Regeln zu respektieren»
Orthodoxe Juden und Davos – eine unerwiderte Liebe?

Sind orthodoxe Juden in Davos nicht mehr willkommen? Der Davoser Tourismus-CEO Reto Branschi (64) beklagt in zwei Interviews, dass sich jüdische Touristen schlecht benehmen. Ein Augenschein vor Ort.
Publiziert: 01.09.2023 um 01:19 Uhr
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Aktualisiert: 01.09.2023 um 10:05 Uhr
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Jeden Sommer prägen orthodoxe Juden das Ortsbild von Davos GR. Hier eine Thora-Einweihung im Jahr 2019. Das sorgt immer wieder für Konflikte.
Foto: Zvg
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Michael SahliReporter News

Orthodoxe Juden lieben Davos GR. Jeden Sommer reisen rund 4000 aus aller Welt an, während eines knappen Monats prägen sie das Strassenbild. Es gibt dann koscheres Essen im Supermarkt und temporäre Lokale zum Beten. Die Wochenzeitung «Jüdische Allgemeine» erklärte die höchstgelegene Stadt Europas scherzhaft zum höchstgelegenen «Schtetl», das jiddische Wort beschreibt einen jüdisch geprägten Ort. Nur: Nicht überall in Davos wird die Liebe der Orthodoxen erwidert, im Gegenteil. Jetzt ist die Situation eskaliert.

Der Davoser Tourismus-CEO Reto Branschi (64) kritisierte seine jüdischen Gäste in zwei Interviews. «Ein Teil dieser Gästegruppe hat spürbar Mühe, die Regeln des Zusammenlebens hier in Davos zu respektieren», liess er sich in der «Davoser Zeitung» zitieren. Und beklagte Abfall in der Natur und respektlosen Umgang. Die Diagnose des Touristikers: «Es brodelt.»

Kurz darauf schlug den Juden in Davos auch Hass entgegen. Die «Gipfel Zytig», laut Eigenbeschrieb ein «Organ für den Tourismus» in der Region, brachte ein Bild von Fäkalien auf der Titelseite. Der Kot sei auf einer Terrasse gefunden worden und stamme «unzweifelhaft von einem menschlichen Wesen mit jüdischer Abstammung», so der widerliche Text. Was ist los zwischen Davosern und Orthodoxen?

Jüdische Touristen nicht mehr willkommen?

Jonathan Kreutner (44) trifft Blick vor der Station der Standseilbahn Schatzalp. Als Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) hat er die Eskalation miterlebt: «Offenbar sind der Tourismusorganisation jüdische Gäste in Davos nicht willkommen», sagt Kreutner.

In den letzten Jahren versuchten Freiwillige des Gemeindebundes zwischen den Davosern und den Orthodoxen zu vermitteln. Zum Beispiel mit einer Broschüre, die den Gästen die lokalen Gepflogenheiten näherbringen soll: Nicht vordrängeln, keinen Abfall in der Natur hinterlassen, und im Restaurant sollte jeder am Tisch auch etwas bestellen. Tourismus-CEO Branschi hat die Zusammenarbeit mit dem SIG aber aufgekündigt, «mit einem dürren Mail», wie Kreutner bemerkt. Der SIG-Generalsekretär ärgert sich, dass alle Juden in den gleichen Topf geworfen würden, weil sich einige wenige schlecht benehmen.

Er sieht zwei mögliche Gründe, die zur jüngsten Eskalation führten: Geld und antijüdische Ressentiments. Geld, weil die orthodoxen Touristen ein untypisches Konsumverhalten zeigen. Sie steigen öfter in Ferienwohnungen als in Hotels ab. Sie unterstützen, mangels Restaurants, die Essen nach koscheren Regeln zubereiten, auch die lokale Gastronomie nur wenig. Und eben: «Dazu gibt es Leute, die Ressentiments gegen Juden haben», sagt Kreutner. Gegen den Kot-Artikel in der «Gipfel Zytig» hat der SIG Anzeige eingereicht. «Das hat klar eine Linie überschritten.»

Lokales Gewerbe hat sich auf die Juden eingestellt

Das einheimische Gewerbe hat sich auf die orthodoxen Touristen eingestellt. Die Spar-Filialen bieten über den Sommer eine Auswahl koscheren Essens an. Metzgerin Susanne Pfister (48) vom Fleischzentrum bietet zwar kein koscheres Fleisch an, baut im Sommer dafür das Fisch-Angebot aus. «In dieser Zeit mache ich mit den Juden sicher 70 Prozent vom Fisch-Umsatz.» Den aktuellen Streit sieht sie differenziert. «Wenn zu viele zur gleichen Zeit kommen, führt das unabhängig von der Herkunft immer zu Problemen», sagt sie. Die Aussagen des Tourismus-CEOs findet sie im Hinblick auf mögliche Image-Schäden für Davos trotzdem «nicht so clever».

Seilbahn-Kassenchef Simon Lutz (38) sieht ebenfalls beide Seiten: «Es gab in der Vergangenheit schon Probleme mit Littering», sagt er. Und wenn das Gegenüber kein Englisch spricht, vereinfache das die Sache auch nicht gerade. Dass die Situation eine Belastung sei, würde er aber nicht sagen. Es sei eine Minderheit, die Probleme mache. Und: «Man muss einfach miteinander kommunizieren!»

«Wir Juden halten uns ans Gesetz»

Die jüdischen Touristen haben vom Streit nichts mitbekommen. Die Hochsaison ist vorbei, nur noch vereinzelt sind Orthodoxe auf der Strasse zu sehen. Joe (39) und Jacob (37) sind mit ihren Familien aus New York angereist. «Wir sind zum ersten Mal hier, das ist ja wie im Märchen!», schwärmt Joe. «Wir Juden halten uns ans Gesetz», sagt er zu den Problemen mit einigen Einheimischen. Und muss schnell weiter, um die Seilbahn zu erwischen.

Israel (47) aus Belgien wohnt im Haus «Etania», das seit 1911 als Heilstätte für orthodoxe Juden dient, die sich von der Höhenluft Linderung erhoffen. «Ich geniesse meinen Aufenthalt hier», sagt er. Dass manche jüdische Gäste lauter und lebendiger seien als der Durchschnitts-Schweizer, führt der zurückhaltende Belgier nicht auf die Religion zurück: «Das ist etwas typisch Israelisches.» Von negativen Erlebnissen erzählen die jüdischen Touristen aber auch: Eine jüdische US-Amerikanerin beklagt, sie sei von einem Picknick-Tisch vertrieben worden. Andere erzählen von schrägen Blicken und unfreundlichem Umgangston von manchen Einheimischen. Fest steht: Die Orthodoxen werden auch nächsten Sommer wieder kommen. Dass das nicht allen in Davos passt, ändert daran nichts.

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